Frankfurter Buchmesse:Stärke der Autonomie

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Maria Parr: Manchmal kommt das Glück in Gummistiefeln. Aus dem Norwegischen von Christel Hildebrandt. Illustrationen von Barbara Korthues. Dressler, Hamburg 2019. 208 Seiten, 15 Euro. (Foto: verlag)

In der norwegischen Literatur werden Kinder ernst genommen.

Von Roswitha Budeus-Budde

"Als das größte Ereignis seit den Olympischen Winterspielen 1994 sehen viele in Norwegen den Gastlandauftritt des Landes auf der diesjährigen Buchmesse in Frankfurt." Ines Galling, Lektorin für Skandinavische Literaturen in der Internationalen Jugendbibliothek in München, kann sich vorstellen, warum man in Norwegen dieses Literaturfest feiert. "Deutschland ist nun mal für die norwegische Literatur der Weg in die Welt. Von hier aus gelangen die Titel dann in die europäischen Sprachen."

Ein großes Verdienst an dieser Erfolgsgeschichte hat die Übersetzungsförderung durch Norla - eine staatliche Stiftung. Mit ihr arbeitet auch die Übersetzerin Gabriele Haefs zusammen. "In Norwegen beobachte ich eine gewisse Vorsicht, viel weniger ausgeflippte Bücher, oder Bücher, in denen Randgruppen nach ihren eigenen Prämissen auftreten, als noch vor zehn Jahren. Das heißt, dass wie auch auf dem internationalen Jugendbuchmarkt vorwiegend Leichtverkäufliches, viel Fantasy, viele Übersetzungen aus den USA erscheinen. Aber wunderbar ist der Trend, dem Fantasyboom etwas entgegenzuhalten und auf die nordischen Überlieferungen zurückzugreifen, Märchenstoffe zu aktualisieren oder gegen den Strich zu bürsten." Wie das dramatisch komische Comic-Märchen "Der siebente Bruder: Oder das Herz im Marmeladenglas" (Gerstenberg). Oyvind Tørseter, ein Vertreter der sehr lebendigen norwegischen Comic- und Illustratoren-szene, wurde dafür im vorigen Jahr mit dem Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. Auch die erfolgreiche Fantasytrilogie "Die Rabenringe" von Siri Pettersen (Arctis) lebt aus der Überlieferung der nordischen Mythologie, die bis in die heutige Zeit reicht.

Zu den Büchern, die aufgefallen sind, gehört auch "Manchmal kommt das Glück in Gummistiefeln" (Dressler) von Maria Parr. Trille und seine Freundin Lena leben in einer wirbeligen Familie, mit seltsamen Eltern und einem weisen Großvater, der ihre schwierigen Gefühle und Enttäuschungen auffängt. Für deutsche Leserinnen und Leser wird hier ungewöhnlich realistisch und ohne pädagogischen Filter von einem anderen Leben erzählt, als sie es kennen. "Denn Kindheit bedeutet in Norwegen große individuelle Freiheit und autonomes Handeln", ist die Erfahrung von Ines Galling. "Kinder werden ernst genommen, was aber manchmal auch bedeutet, dass sie die Defizite der Erwachsenen kompensieren müssen. Mehr und mehr wird der Druck, besonders für Jugendliche spürbar, den Ansprüchen einer Gesellschaft zu genügen, die sich stark verändert, in der sich die typische skandinavische Konsensgesellschaft aufzulösen scheint."

Die Literatur zeigt diese Auflösungserscheinungen. "Jetzt werden die Konflikte dargestellt, die immer schon da waren", meint Ines Galling. So erscheinen in diesem Herbst zwei Titel, die sich mit der Situation von Außenseiterinnen in der Schule beschäftigen und die schon auf das soziale Gefälle innerhalb der Gesellschaft vorbereiten. Heddy, in der Freundschafts- und Schulgeschichte "Zu cool, um wahr zu sein" (Hummelburg), von Mina Lystad, wird Opfer einer Cyberattacke, die als Schulaufgabe eines sehr naiven, von den digitalen Medien faszinierten Lehrers beginnt. Von den Gefahren, die von sozialen Medien ausgehen können, erzählt Katherine Nedrejord in "Lass mich!" (Urachhaus), wo die angeblich beste Freundin der Ich-Erzählerin gemeine Blog s für ihre Machtspiele einsetzt.

Großes Medienecho fand in diesem Jahr "Schamlos" (Gabriel) die kämpferischen und autobiografischen Erfahrungen von drei jungen Frauen, einer Muslima, einer Bloggerin und einer Feministin, die Migration und die Situation der Frauen in autobiografischen Texten bloßlegen.

Bücher, die wunderbare Rezensionen bekommen, aber nicht unbedingt ein Lesepublikum, sieht Gabriele Haefs verstärkt auf dem Markt und ist skeptisch. Ob darunter auch die politischen Titel fallen, die sich mit dem Zweiten Weltkrieg und der Verfolgung der jüdischen Mitbürger beschäftigen? In Maja Lundes "Über die Grenze" (Urachhaus) gelingt Kindern eine dramatische Rettungsaktion, während in Marianne Kaurins: "Beinahe Herbst" (Arctis) die Heldin durch Zufall vor dem Transport nach Deutschland bewahrt wird.

Die Leseförderung ist ohne das Frankfurter Event in Norwegen ungewöhnlich groß. Jährlich werden 600 Novitäten in großen Auflagen an die öffentlichen Bibliotheken verschenkt, die jetzt einen zusätzlichen Geldregen bekommen, die gleiche Summe, die der Gastlandauftritt in Frankfurt kostet.

© SZ vom 11.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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