Finnland:Das Dumme an Erinnerungen

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Von der Dekonstruktion eines Gefühls: Minna Rytisalos vielschichtiger Roman "Lempi das heißt Liebe".

Von Jörg Magenau

"Lempi" heißt auf Finnisch Liebe. Lempi heißt auch die Hauptfigur im Debütroman der finnischen Bloggerin und Lehrerin Minna Rytisalo, 1974 in Lappland geboren. Der Einfachheit halber hieß auch das finnische Original "Lempi", im Deutschen ist dem Titel die Übersetzung beigefügt: "Lempi, das heißt Liebe." Ein Liebesroman also? Ja, aber einer, in dem die Liebe aufs Merkwürdigste dekonstruiert wird und am Ende nichts mehr so ist, wie es am Anfang scheint. Vielleicht ist das ja mit der Liebe so.

Der Roman spielt vor dem Hintergrund des finnisch-russischen Kriegs und der deutschen Besatzung im zweiten Weltkrieg. Nach dem erzwungenen Friedensschluss mit Russland wurden die Deutschen zunächst als Beschützer und Partner ins Land gerufen. Drei Jahre lang kämpften Finnen und Deutsche Seite an Seite. Im finnischen Lappland lebten damals 180.000 Finnen und 200.000 Deutsche, wie die Übersetzerin Elina Kritzokat in einem instruktiven Nachwort erklärt. Weil finnische Männer an der Front kämpften, waren viele Frauen allein und es kam zu zahlreichen deutsch-finnischen Liebesverhältnissen. Das wurde nach dem russischen Sieg 1944 zum Problem.

Jetzt waren die Deutschen plötzlich Feinde und mussten innerhalb von 14 Tagen fluchtartig das Land verlassen. Zurück blieben Frauen und Kinder, die geächtet und bis in die 60er Jahre hinein diskriminiert wurden. Dieses Thema war in Finnland lange Zeit tabu.

Der Roman besteht aus drei Teilen, in denen Rytisalo aus drei verschiedenen Perspektiven erzählt. Da ist zunächst der Bauernsohn Viljami, der aus dem Krieg zurückkehrt und bei der letzten Rast unter einer Birke an seine Frau denkt, Lempi, die Tochter eines Einzelwarenhändlers. Er hat sich im Laden in der Kleinstadt in sie verliebt, sie geheiratet und mit aufs Land genommen, obwohl er fürchten musste, dass sie, die aus besserer Gesellschaft stammte, mit der harten Arbeit in der Abgeschiedenheit nicht glücklich werden würde.

Einen Sommer und ein halbes Jahr verbrachten sie im Liebesrausch, bis er eingezogen wurde und an die Front musste. Dort erfuhr er, Lempi habe ihn verlassen, sie sei zu einem Deutschen ins Auto gestiegen. So berichtete es die Magd Elli, doch er kann das nicht glauben. Viljamis Erzählung ist ein naiver, ziemlich kitschiger Liebesroman, und wenn es dabei bliebe, wäre dieser Roman nicht der Rede wert.

Teil zwei ist aus Ellis Perspektive erzählt, die als Arbeitskraft auf dem Hof ihre junge Herrin hasste, weil die zu feine Hände hatte und lieber vor dem Spiegel stand als zu arbeiten. Aus ihrer Sicht hört sich die Geschichte ganz anders an, hat mit Dummheit und Eitelkeit zu tun hat, als mit Liebe, und liefert schließlich einen schrecklichen Grund für das Verschwinden Lempis. Ellis Geschichte ist dämonisch und böse und auf ganz andere Weise beschränkt, als Viljamis vergoldete Erinnerungen.

"Das ist das Dumme an Erinnerungen, man kann nie ganz sicher sein", sagt Lempis Zwillingsschwester Sisko, die im dritten Teil zu Wort kommt. Sie kehrt einige Zeit nach dem Krieg aus Deutschland zurück, besucht Viljamis Hof, um endlich zu erfahren, ob ihre Schwester noch lebt und wo sie zu finden wäre. Siskos Geschichte ist tatsächlich tragisch: Sie floh mit ihrem Geliebten Max, einem deutschen Soldaten, nach Hamburg, wurde dort von ihm im Stich gelassen, musste sich elend alleine durchschlagen und ist nun, nach ihrer Rückkehr, das Flittchen, das sich mit dem Feind eingelassen hat. Sie berichtet, dass Lempis Hochzeit mit Viljami bloß einer Wette entsprang: Die Schwester sollte den Nächstbesten nehmen, der den Laden betrat. Sisko bezahlt diese schwesterliche Leichtfertigkeit damit, dass es in ihrem Leben keine großen Gefühle gibt. Liebe ist für sie nichts als eine "schwierige Angelegenheit".

Am Ende löst auch Sisko das Rätsel um ihre Schwester nicht ganz, und doch setzt sich aus den drei verschiedenen Geschichten, die alle in ihrem eigenen Horizont gefangen bleiben, eine fürchterliche Wahrheit zusammen, die das Wissen jedes und jeder einzelnen übersteigt. Der Reiz dieses Romans besteht in der kunstvollen Überlagerung der verschiedenen beschränkten Sichtweisen. Für jeder ihrer Figuren hat Minna Rytisalo darüber hinaus eine eigene Sprache gefunden.

Minna Rytisalo macht Zeitgeschichte gerade dadurch spürbar und transparent, dass ihre Figuren darin feststecken ohne sie zu durchschauen. Genau darin besteht ja die Wirkung der Geschichte, die als Schicksal empfunden wird. Viljami ahnt es, wenn er sagt: "Wie die Dinge einfach passieren. Und das Leben weitergeht." Genau dieses Gefühl versucht Minna Rytisalo zu fassen, und das gelingt ihr sehr gut.

© SZ vom 09.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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