Filmfestspiele Cannes:Farbenrausch im Todestrakt

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Horrorvision: leere Kinosäle. Filmemacher kämpfen um Originalität und das Überleben des Kinos. Michael Moore ist zurück mit "Sicko" und bei den Brüdern Coen bleibt den Zuschauern das Lachen im Hals stecken.

Susan Vahabzadeh

Wenn man 35 Filmemacher vom Kino träumen lässt, träumt ungefähr die Hälfte von leeren Sälen, in denen alte Filme laufen, die niemand mehr sieht. "Chacun son cinéma", das Geburtstagsgeschenk, das Cannes-Veteranen dem Festival zum Sechzigsten gemacht haben, ist so melancholisch, als habe das Kino seine Zukunft schon hinter sich.

Vorgaben hat es nicht gegeben für die 3-Minuten-Stücke, aber es wurden offensichtlich auch so alle ganz traurig beim Nachdenken übers Kino. Angelopoulos lässt Jeanne Moreau in einem verlassenen Theater den toten Marcello Mastroianni wiederfinden; Cronenberg erschießt sich in einem Science- Fiction-Teil selbst als letzter Jude auf dem Klo des letzten Kinos der Welt; und bei Ken Loach entscheiden sich die potentiellen Zuschauer kurz vor Vorstellungsbeginn für ein Fußballspiel.

Cannes exzellent: Filme im Film

Gemeinschaftsangst also, vor einer Zukunft in der nur noch eine einzige Art von Film konsumiert wird, und zwar zuhause auf dem Sofa. Die Brüder Ethan und Joel Coen gehören zu den wenigen, die nicht die Apokalypse auf den Leinwänden herannahen sehen.

Ihr Segment ist ein Nebenprodukt ihres Wettbewerbsbeitrags "No Country for Old Men" - dessen Hauptfigur, Josh Brolin als eher schlichter texanischer Trailer-Bewohner stolpert in ein Programmkino und lässt sich vom Mann an der Kasse beraten, es gibt Renoirs "Règle du jeu" oder Nuri Bilge Ceylans Trennungsdrama "Iklimler", das voriges Jahr in Cannes lief.

Ob unten auf der Leinwand was steht, will er wissen, damit man der Handlung folgen kann. Klar, und sind beides exzellente Filme, sagt der Kassierer. Das ist sehr komisch und baut sich dann auf zu einem rührenden Moment - wenn der Typ nach dem Film an die Kasse zurückstolpert und der Frau dort in seinem texanischen Slang sagt: "Sagen sie dem anderen Kerl, dass es großartig war. Es war soviel Wahrheit darin."

Saukomische Dialoge zu stockfinsteren Taten

In "No Country for Old Men" stolpert Llewelyn (Brolin) in einen Leichenhaufen in der Wüste, die Überreste eines geplatzten Drogendeals, das Geld ist noch da, und diesen Koffer mit zwei Millionen schnappt er sich und haut ab. Leider ist da ein Sender drin, und ein düsterer Sensenmann heftet sich an seine Fersen, ein Killer, der so ziemlich jedem mit seiner Hochdrucksauerstoffflasche ein Loch in den Kopf bläst, der ihm in die Quere kommt.

Die Geschichte, nach einem Roman von Cormac McCarthy, spielt 1980, Tommy Lee Jones ist der entgeisterte Sheriff, der die Morde aufzuklären versucht. Der Plot hat ein bisschen was von "Fargo", saukomische Dialoge zu stockfinsteren Taten, die Geschichte ist erfüllt vom Grotesken der Gewalt, den atemberaubenden Absurditäten, die sich Menschen für Geld antun. Das Lachen bleibt einem permanent im Halse stecken, aber die Coens sind viel sanfter geworden, und melancholischer.

Am Ende sitzt der Sheriff bei seinem früheren Chef und klagt ihm sein Leid darüber, was aus der Welt geworden ist. Und der antwortet ihm mit einer Geschichte von 1909 - es war immer so, und es wird immer so bleiben. "No Country for Old Men" ist großartig gefilmt, in Blau und Ockertönen, und die Coens haben ein untrügliches Gefühl dafür, ihre Irritation über die Menschheit in kleinen Gesten aufblitzen lassen. Nur ein Quentchen Wahrhaftigkeit fehlt dieser Geschichte am Ende aber doch.

Frankreich ohne Alkohol

Das ist vielleicht das größte Problem des Kinos, eine Rastlosigkeit beim Erzählen, die Angst, sich nicht selbst noch mal zu übertreffen. Kim Ki-Duks "Soom" hat einen ähnlichen Makel wie "No Country", man wird das Gefühl nicht los, dass die schlechten Karaoke-Nummern, die den Film fast sprengen, ein Produkt der verzweifelten Suche nach Originalität sind - wo doch die Liebesaffäre einer unzufriedenen Ehefrau mit einem stummen Todeskandidaten schon grotesk genug ist - sie dekoriert ihm die Besucherzelle mit der Besessenheit einer farbenblinden Innenarchitektin.

Es mag früher nicht alles besser gewesen sein - aber leichter war es allemal, aus dem Kino ein Ereignis zu machen, das sieht man zum Beispiel bei Pierre Rissient, einer Festival-Institution. Rissient, erst Kritiker, dann Presseagent, schließlich einer der Architekten des Cannes-Programms und deswegen auch einiger großer Karrieren, die hier begonnen haben, wurde vom Festivalchef Thierry Frémaux als der einzige Mann geoutet, der gegen jedes Protokoll im T-Shirt in die Abendgala rauschen darf.

Der Variety-Kritiker Todd McCarthy hat die Dokumentation "Pierre Rissient - Man of Cinema" über ihn gedreht, Interviews gemacht mit jenen, denen Rissient den Weg geebnet hat - Clint Eastwood, Quentin Tarantino, Sydney Pollack, Olivier Assayas ... Eine der Anekdoten handelt davon, wie Rissient und sein Partner Bertrand Tavernier John Ford nach Paris holten und eine Woche lang ihm einzureden versuchten, es gebe in Frankreich nirgends Alkohol, um ihn auszunüchtern für die geplanten Interviews.

Vive la France

Dok-Time war angesagt am ersten Wochenende, große Dokumentationen von Barbet Schroeder und Michael Moore. "Sicko" ist echter Moore, lustig und manchmal sehr klug, aber Schwarzweißmalerei natürlich. Es geht um Gesundheitsversorgung in den USA, im Vergleich zu England etwa oder Frankreich, aber Raum für Nuancen sind da nicht - Moores Loblied auf das französische Gesundheitssystem lässt keinen Raum für den kleinsten Moment der Schwäche, unterbezahlte Krankenschwestern etwa, und die Kuba-Episode, für die gegen ihn ermittelt wird in den USA, würde sofort zu einer Einwanderungswelle nach Kuba führen, könnte noch irgendwer glauben, dass die Dinge so klar sind wie in einem Moore-Film.

Aber grundsätzlich hat er natürlich recht, weil er ein sehr klares Bild davon zeichnet, wie die Versicherungen in den USA zum reinen Geschäft werden, in dem es nur noch darum geht, möglichst wenige Leute behandeln zu müssen - wie weit mag da unsere eigene Zukunft vorweggespiegelt sein? Aber er kann, wie immer, nicht aufhören, gnadenlos draufzuhalten auf die verweinten Gesichter der Opfer, die er verteidigt, ohne sich je bewusst zu werden, dass das auch im Kampf für die gerechte Sache irgendwie herzlos wirkt.

Einer der besten Momente ist, wenn die Kamera von einem betagten britischen Parlamentarier wegzappt, der gerade von den Anfängen von National Health erzählt, von Solidarität und den Grundlagen der Demokratie, und eine Tasse im Regal einfängt, auf der steht: "Old Labour and proud of it".

Offensichtliche Ungereimtheiten

Barbet Schroeders "L'avocat de la Terreur" ist sozusagen der filmische Gegenentwurf. Er fängt mit dem Hinweis an, der Film werde seine Sicht auf den Anwalt Jacques Vergès wiedergeben, nicht die der Interviewpartner. Es beginnt mit dem Massaker von Sétif, als zeitgleich mit der Befreiung Frankreichs in Algerien Tausende Demonstranten umgebracht wurden.

Vergès wollte hier wie dort für die Freiheit kämpfen, geht also als junger Anwalt in den Fünfzigern nach Algier, um Attentäter zu verteidigen. Die Geschichte hat ihm recht gegeben, was ein spannender Ausgangspunkt ist für Vergès' weitere Arbeit - er verteidigte RAF-Mitglieder, Carlos, Leute von der palästinensischen Befreiungsfront und, der daraus resultierenden Nazi-Kontakte wegen, Klaus Barbie.

Schroeder lässt ihn das erklären: für Vergès sei es eher um eine Anklage französischer Vergehen gegen die Menschenrechte gegangen als um die Verteidigung Barbies. Die offensichtlichen Ungereimtheiten in dem, was Vergès sagt, lässt Schroeder einfach stehen - Vergès bleibt gleichermaßen Held, Menschenrechtler, Lügner, zwielichtige Figur.

Das ist ein großartiges Dokument, das einen mit einem Wust an Gedanken und totaler Unordnung im Kopf in die Nacht entlässt - aber man ist sich wenigstens ganz sicher: Auch, wenn es vielleicht so schlecht steht ums Kino, wie Angelopoulos und Loach befürchten, es wird auf jeden Fall noch gebraucht.

© SZ v. 21.5.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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