Filmfestival Venedig:Propheten in der U-Bahn

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Optimismus bei der Festivalleitung, Erwartungsdruck für David Lynch und seinen neuen Film "Inland Empire".

Susan Vahabzadeh

Es gibt so etwas wie eine Blitzdepression - und für so was ist Venedig eigentlich der beste Ort der Welt. Man ist in einer lauen Sommernacht zu Bett gegangen und wacht am nächsten Morgen frierend wieder auf, von ohrenbetäubendem Lärm geweckt. Nebelhörner. Der Lido und die Lagune sind weg. Die Vaporetti tasten sich, tutend, durch eine zähe graue Wolke. Sieht aus wie November. Es überfordert das Vorstellungsvermögen eines an deutsche Witterungsverhältnisse gewöhnten Menschen, dass ein solcher Vorgang umkehrbar sein könnte. Der echte Venezianer - es gibt hier tatsächlich welche - blickt dann prüfend in die trübe Suppe und sagt, in zwei Stunden sei der Spuk vorüber, und es würde noch ein richtig heißer, sonniger Tag.

David Lynch bekam einen "Goldenen Löwen" für sein Lebenswerk. Sein neuer Film "Inland Empire" erfüllt nicht die Erwartungen. (Foto: Foto: dpa)

Erstaunlicherweise hatte er recht. Mit dem Rom-Phantom, das Venedig dieses Jahr heimsucht, verhält es sich ähnlich. Wenn darüber geredet wird, wie das neue Festival im Oktober in der Hauptstadt aufgezogen wird, das schon von Anfang an finanziell besser ausgestattet ist, kann einem angst und bange werden. Hört man aber, wie Festivaldirektor Marco Müller und der Biennale-Chef Davide Croff sich ihre Zukunft ausmalen, ist der Himmel sofort wieder blau und klar. Das mit dem neuen Festivalpalast für den Lido, der mehr als 100 Millionen Euro kosten wird, das wird schon irgendwie - die frisch installierte Regierung Prodi ist bereit, die Summe in den Topf zu werfen, die noch fehlt, wenn die Sponsorengelder zusammengetragen sind. Und überhaupt ist Müller ganz glücklich, dass die "Autonomie des Festivals" neuerdings so viel Respekt findet in Regierungskreisen - dazu, dass das keineswegs immer so war in den vergangenen Jahren, kann sein Amtsvorgänger ein Lied singen.

Ein bisschen italienische Präsenz im Wettbewerb muss trotzdem sein, Gianni Amelio vertritt das nationale Kino mit "La stella che non c'e" - ein China-Roadmovie: Lost in Italian Translation. Amelio schlägt sich redlich, ist viel mehr bei sich als er in "Chiavi di Casa" war, der vor zwei Jahren hier im Wettbewerb lief. Ein italienischer Ingenieur folgt dem Hochofen, den er jahrelang betreut hat, nach China, weil das Ding technische Probleme hat, die nur er lösen zu können glaubt. Er macht diese Reise mit einem jungen Mädchen, Liu, einer Übersetzerin, die er in Italien um ihren Job gebracht hat und die er so wenig versteht wie das Land, durch das er reist. Und mit der Zeit findet er sich zurecht, in der Weite des Landes und mit Liu. Den Ingenieur spielt Sergio Castellitto - was einen daran gemahnt, dass es einmal ein europäisches Kino gab, in dem man auch in den Nachbarländern so ungefähr wusste, wer überall mitspielt. Castellitto ist auch in Cannes ein Dauergast, dieses Jahr war er in Marco Bellochios "Wedding Director", in Deutschland ist er bis auf "Bella Martha" eine unbekannte Größe.

Das Personal von Emilio Estevez' Wettbewerbsbeitrag "Bobby" hingegen ist eine Berühmtheitengalerie, die ihresgleichen erst noch finden muss: Sharon Stone, Anthony Hopkins, Harry Belafonte, Helen Hunt, William H. Macy, Lindsay Lohan, Elijah Wood, Ashton Kutcher, Demi Moore, Martin Sheen, Laurence Fishburne ... und das ließe sich noch fortsetzen. Diese Hotelstory - der Verweis auf Greta Garbo und "Grand Hotel" wird gleich in den ersten Minuten geliefert - entspinnt sich im Ambassador in L.A., zwischen Managern und Küchenpersonal, Gästen und Wahlkampfleuten, die für die Primaries gekommen sind - es ist der 5.Juni 1968, der Tag, an dem Bobby Kennedy ermordet wurde. Eine schöne Episodengeschichte, immer wieder unterbrochen von Kennedys letzten Reden auf den Fernsehbildschirmen; Hunt und Sheen haben Eheprobleme, Sharon Stone und Demi Moore unterhalten sich übers Altwerden, in der Küche, in der später Kennedy ermordet werden wird, doziert Laurence Fishburne über Rassismus ... Alle machen Pläne, und am Morgen danach wird alles anders sein - der Vietnamkrieg wird noch sieben Jahre weitergehen, und tausend Hoffnungen werden zu Grabe getragen. Wieder ein apokalyptischer Sechzigerjahre-Moment - the words of the prophets are written on the subway walls ... "Bobby" endet zu den Klängen von "The Sounds of Silence".

Der Vater, ein Unberührbarer

In der zweiten Hälfte wirkt Estevez' Film etwas unkonzentriert, aber insgesamt hat er das Gefühl, von dem er erzählen will, die Aufbruchstimmung vor dem Desaster, die danach nie wieder herstellbar war, gut auf den Punkt gebracht. Gegen so viel Starrummel muss man natürlich erst mal ankommen - daneben wirken Filme aus dem Rest der Welt, mit unbekannten Gesichtern und ganz anderen Herangehensweisen, oft zerbrechlich. Und manchmal fallen sie in sich selbst zusammen. So ist das beispielsweise bei Benoît Jacquot, der für seinen "L'intouchable" wieder mit der jungen Isild Le Besco gearbeitet hat - sie spielt ein Mädchen, dass herausfindet, dass der Vater ein Inder war, ein Unberührbarer, und sich auf eine ziemlich ziellose Suche macht am Ganges. Eine halbe Stunde lang wirkt der Film, als könne er noch ziemlich interessant werden - und dann verplappert er sich doch, zwischen indischen Hochzeiten und sinnlosen Begegnungen. So etwas kann einem aber auch passieren, wenn man Hollywood im Rücken hat - Darren Aronofsky ist mit "The Fountain" eine Aneinanderreihung sehr schöner Bilder ohne Zentrum unterlaufen. So eine Art "Solaris light": Ein Forscher (Hugh Jackman) versucht, schneller ein Heilmittel für Hirntumore zu finden, als seine Frau (Rachel Weisz) an einem stirbt - sie schreibt einen Roman über Königin Isabella, die Conquistadores und den Quell des ewigen Lebens der Maya. Zwischen diesen beiden Erzählebenen und Jackmans Reise durchs All switcht der Film hin und her, aber er kommt nie so richtig zu Bewusstsein. Da darf man gespannt sein, ob irgendwas davon das Herz von Catherine Deneuve, der Jurypräsidentin, erwärmen kann.

Auf David Lynchs "Inland Empire" lasteten natürlich riesige Erwartungen, obwohl er nicht im Wettbewerb ist (aber Lynch kriegt einen Ehrenlöwen) - erfüllt hat er sie nicht. Das Imperium befindet sich im Inneren einer Hollywoodschauspielerin, man könnte sagen, es ist eine Reise durch Hollyweird. Wie in "Mulholland Drive" spalten sich Persönlichkeiten und Erzählebenen, nur sehr viel schlichter, und das Gefühl der Beklemmung, des Gefangenseins in Lynchs Mysterien, will sich nicht einstellen. "Still Life" dagegen, vom Chinesen Jia Zhangke, hatte überhaupt nicht mit Erwartungen zu kämpfen - er ist der diesjährige Überraschungsfilm im Wettbewerb (außerdem zeigt der Regisseur in der Reihe "Orizzonti" den Dokumentarfilm "Dong"). Die Geschichte entspinnt sich am Staudamm des Jangtse, in einer Stadt, die geflutet wird; bei Jia Zhangke wird schnell klar, wie das Leben dieser Leute und die Härte, mit der ihnen ihr Zuhause genommen wird, zusammengehören - die Frauen schaffen an, wenn sie nicht in andere Provinzen verkauft wurden, die Kinder laufen schon herum wie Halbstarke, bevor sie über die Tischkante gucken können, die Männer streiten um Abfindungen für ihre zerstörten Existenzen. Die Menschen in dieser Stadt sind der vernachlässigte Teil einer Gesellschaft, in der der pursuit of happiness keine Rolle spielt. Jia Zhangke hat für "Still Life" in China tatsächlich eine Freigabe bekommen - zu Hause allerdings nur in einer geschnittenen Version. Wobei man sich gar nicht vorstellen kann, dass man von diesem Film eine Fassung herstellen kann, in der die Welt schön wird - einzig die Erscheinungen, die manchmal am Himmel wahrzunehmen sind, verheißen Hoffnung.

© SZ vom 07.09.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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