61. Filmfestival in Cannes:Die Unbesiegbaren

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Keine ohrverspeisende Witzfigur: Mit leiser Entschlossenheit kehren die Champions zurück - Mike Tyson und James Toback, Jean-Pierre und Luc Dardenne.

Tobias Kniebe

Der erste große Triumph, der Sieg aus dem Nichts, der alle umhaut, der neue Champion mit der goldenen Trophäe in der Hand: Das ist nicht nur eine Phantasie des Sports, das ist durchaus auch eine Phantasie von Cannes. Was vielleicht den besonderen Empfang erklärt, den das Festival dem ehemaligen Boxchampion Mike Tyson und seinem filmischen Chronisten, dem Regisseur James Toback, bereitet hat. Die Dokumentation "Tyson", außer Konkurrenz zu sehen, wird hier nicht als Enthüllungsbeichte einer ohrverspeisenden Witzfigur wahrgenommen, sondern als genuin tragische Künstlerbiographie.

Die Meister studieren, bei einem Meister in die Lehre gehen, den Weg an die Spitze erkämpfen - da unterscheidet sich der Boxer in nichts vom Cineasten. Und härter wird dann nur noch der Kampf, ganz oben zu bleiben, die eigene Klasse immer wieder zu bestätigen. Mit bisher nicht gekannter Offenheit zeigt "Tyson", wie einer daran scheitern und mannigfaltigen inneren Dämonen erliegen kann - und wer von den Champions des Kinos, von Wong Kar-Wai bis Steven Spielberg, könnte dieses Dilemma nicht nachvollziehen?

Wong Kar-Wai, der letztes Jahr mit "My Blueberry Nights" die Eröffnungsrunde des Wettbewerbs bestritt und danach von vielen Kritikern den Gürtel des Meisters erst einmal aberkannt bekam, gönnt sich diesmal eine Verschnaufpause. Für eine Sondervorführung hat er seine sehr wenig bekannte vierte Regiearbeit "Ashes of Time" (1994) noch einmal überarbeitet und sogar gekürzt.

Wie Neonlicht in Hongkong

Jetzt sieht man, wie sehr der Film, der immer als ein eher untypischer Ausflug ins Schwertkämpfer-Genre galt, doch hundert Prozent Wong Kar-Wai ist: Die Farben der Wüste leuchten in diesen Bildern genauso künstlich und wildromantisch wie sonst das Neonlicht in Hongkong, die Kampfszenen sind verwischt wie ätherische Traumsequenzen, und das Philosophieren über verlorene Liebe und selbstgewählte Einsamkeit klingt ganz wie gewohnt. Leider wird allerdings auch eine Schwäche des Regisseurs hier besonders offenbar: die Tendenz, die einfache Schönheit seiner Themen mit seltsam verworrenen Geschichten zu verhüllen.

Für die Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne geht es um mehr - man könnte fast sagen um Titelverteidigung. Zweimal haben sie aus Cannes schon die Goldene Palme mit nach Hause genommen, für "Rosetta" und für "L'enfant - Das Kind", und wenige Juryentscheidungen waren so unumstritten wie diese. Kann das so weitergehen? Oder werden sie diesmal Schwäche zeigen? Die ersten Einstellungen von "La Silence de Lorna - Lornas Schweigen" suggerieren, dass sie den Druck offensichtlich nicht einmal spüren. Wie immer entfalten sie mit leiser Entschlossenheit und äußerster Ökonomie eine dramatische Geschichte - und vertrauen dabei ganz auf das stoische Gesicht einer jungen Frau.

Die Albanerin Lorna, gespielt von der wundervollen Entdeckung Arta Dobroshi aus dem Kosovo, strahlt eine Stärke und Menschlichkeit aus, der man zutraut und wünscht, dass sie allen Widrigkeiten des Lebens trotzen möge - ganz ähnlich wie die früheren Dardenne-Heldinnen Rosetta und Sonia. Und ihre Regisseure wachen als zwar teilnahmsvolle, aber auch gänzlich unbestechliche Götter über ihr Schicksal: Auf die unverdient einfachen Auswege, die das Kino sonst so gerne zeigt, durfte keine Dardenne-Figur je hoffen.

Faustischer Pakt

Lorna steckt in einem Dilemma, das ein wenig zu ausgefeilt wirken könnte, wäre es nicht so brillant in der belgischen, im Grunde EU-weiten Realität von Migration, Ausländerrecht, östlichen Wanderarbeitern und organisiertem Verbrechen verankert. Eine Scheinehe mit dem Junkie Claudy hat ihr eine Summe Geld und die belgische Staatsbürgerschaft eingetragen, aber auch einen faustischen Pakt mit einem lokalen Kleingangster, der wiederum mit der Russenmafia Geschäfte macht: Der Junkie soll mit einer Überdosis ermordet werden, damit die Witwe eine weitere Scheinehe mit einem Russen eingehen kann - was wiederum mehr Geld für sie bedeutet.

Als Ausgangspunkt funktioniert das auch deshalb, weil der Dardenne-Stammschauspieler Jérémie Renier die nervenraubende Bedürftigkeit des süchtigen Claudy so perfekt verkörpert - bis man ihm fast selbst den Tod wünscht. Zugleich aber ist er wie ein Kind, das nicht nur Lorna bald immer dringender retten möchte. Sie entdeckt ihre wahren Gefühle in dem Moment, wo es exakt zu spät ist, und die weitere Zuspitzung ihrer Schuld, die man vom Plot her noch zu durchschauen glaubt, wird dann noch einmal so brillant unterlaufen und zugleich verschärft, dass man am Ende sprachlos zurückbleibt.

Damit ist "Le Silence de Lorna" nicht nur der beste Film, der bisher im Wettbewerb zu sehen war - sein unentrinnbarer Sog zu einem beinah mythischen Ende übertrifft an Tragik und Schönheit auch alles, was die Dardenne-Brüder hier schon zeigten.

Wenn Lorna am Ende allein durch einen Wald irrt und alles verloren hat, zurückgeworfen auf die einfachsten Überlebensinstinkte, vom Schicksal gebrochen und ungebrochen kampfbereit zugleich, haben die beiden Belgier einen Knockout gelandet wie Mike Tyson in der Phase seiner größten Unbesiegbarkeit. Gemessen daran, was die Brüder hier schon gewonnen haben, kann man diesem Film eigentlich nichts anderes geben als die Goldene Palme. Das wäre ihre dritte - und das gab es in Cannes, der Heavyweight Championship der Filmkunst, noch nie.

© SZ vom 20.5.2008/ehr - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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