Film über die "Colonia Dignidad":Was vom Horror übrig blieb

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Wo früher gefoltert wurde, wird heute deutsche Folklore zelebriert. (Foto: Dokfest München)

Ein Dokfilm über das Erbe der "Colonia Dignidad" in Chile.

Von Philipp Stadelmaier

Manche Filme erzählen eine Geschichte; andere öffnen die Augen. "Songs of Repression" von Marianne Hougen-Moraga und Estephan Wagner gehört zur zweiten Kategorie. Der Dokumentarfilm ist bis 24. Mai als Stream im Rahmen des Münchner Dokfests verfügbar, das dieses Jahr Corona-bedingt online stattfindet.

Die Filmemacher porträtieren die Bewohner der "Villa Baviera" im Süden Chiles, die aus der berüchtigten "Colonia Dignidad" hervorgegangen ist. Ab 1961 hatte der 2010 im Gefängnis verstorbene Paul Schäfer hier mit deutschen Landsleuten ein sektenartiges Regime errichtet. Die Mitglieder der religiösen Kommune lebten in einer grausigen Parallelwelt: Männer, Frauen und Kinder wurden segregiert; Prügelstrafe, Kindesmissbrauch und sexuelle Gewalt waren Alltag. Über hundert Menschen wohnen noch immer an diesem Ort. Einige verstehen erst Jahre nach der Verhaftung ihres sadistischen Gurus im Jahr 2007, dass ihnen unrecht angetan würde. Dass Sexualität und Gewalt nicht auf natürliche Weise verbunden sind und Kindesmissbrauch ein Verbrechen ist.

Die Betroffenen sind Opfer wie Täter und leben in einer zutiefst zerrissenen Gemeinschaft. Einige sind wütend und traurig, bemüht um Aufklärung. Andere klammern sich noch immer an die "guten" Seiten der Schäfer-Ära: "Nicht alles war schlecht." Mit rosigen Bäckchen und bemüht um "Vergessen und Vergeben" schmettern sie unverdrossen deutsche Volkslieder, wie damals. Es ist eine absurde, schockierende Szenerie, die die Filmemacher mit ruhiger Hand festhalten: das Nachleben einer geschlossenen Horrorwelt, die aus Gesang und Gewalt bestand - und heute als Freizeitattraktion für Touristen genutzt wird, die hier deutsche Bierzeltkultur angeboten bekommen.

In den Siebzigern arbeitete Schäfer mit Schergen des Diktators Augusto Pinochet

Die Stärke des Films liegt in der nuancierten Dokumentation des Umgangs der Bewohner mit der Vergangenheit, wie sie verdrängen und relativieren. Da ist die alte Frau, die sich selbst die Schuld gibt, als Kind "zu sensibel" gewesen zu sein, zu sehr geweint zu haben. Oder der Mann, der in seine Mundharmonika pustet ("Kommt ein Vöglein geflogen"), während seine Frau neben ihm auf dem Sofa grinst. Selten hat man so klar die Sehnsucht nach Unterwerfung und Verniedlichung gesehen.

In den Siebzigern arbeitete Schäfer mit Schergen des chilenischen Diktators Augusto Pinochet zusammen. Politische Gefangene wurden auf dem Geländer der Kolonie gefoltert, ermordet, verscharrt. Einige erinnern sich mit Zittern an die Schreie. Andere stellen ihre eigene Opferrolle in den Vordergrund oder verteidigen die Leistungen des chilenischen Diktators. Während die Regisseure eine Fundstelle menschlicher Überreste filmen, entfernt sich der Mann, der sie zu der Stelle geführt hat. Er hat Fliegenpilze entdeckt.

Hougen-Moraga und Wagner spielen das Ablenkungsmanöver mit, filmen die Pilze und weisen auf ihre Tödlichkeit hin. Sie urteilen über niemanden, folgen den einzelnen Personen in ihre jeweiligen Ausformungen der Traumata. "Die Wahrheit macht frei": Diese Doktrin Schäfers wird von den Bewohnern oft zitiert. Jeder hat seine Wahrheit und glaubt fest daran. Daher kann sich das Böse so gut hinter ihr verstecken.

© SZ vom 14.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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