Mexikanische Literatur:Am Nullpunkt

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Verdammt gut geschrieben und verdammt gut übersetzt: Fernanda Melchors vulgärer, funkelnder, außergewöhnlicher Mexiko-Roman "Saison der Wirbelstürme".

Von Ralph Hammerthaler

Uff! Das wäre die spontane Reaktion auf "Saison der Wirbelstürme", den zweiten Roman der jungen mexikanischen Autorin Fernanda Melchor. Kapitel für Kapitel stürzt hernieder, in wüsten Gedanken- und Bilderströmen, ohne dass man einen Absatz erblickte zum Rasten für eine Sekunde. Höchstens Sprache und Rhythmus wiegen einen in trügerischer Geborgenheit, trügerisch deshalb, weil Melchor für Geborgenheit nichts übrig hat, so wenig wie für Vernunft und Verständigung, für Liebe und Freundschaft.

Stattdessen erzählt sie wütend von der bösen Welt und entsprechend entwickelt sie ihr Personal in dem mexikanischen Provinzkaff La Matosa. Die Gegend liegt in der Nähe einer Hafenstadt und wird von einer neuen Landstraße durchzogen, die den Hafen mit der Hauptstadt und den im Norden entdeckten Ölvorräten verbindet. An den Rändern erheben sich Baracken und Imbissbuden, Kneipen, Bordelle und Striplokale. Die Frauen sind Schlampen oder, wenn jung und wenig erfahren, Flittchen; die Männer sind Wichser, Säufer, Gewalttäter und Versager.

Wenn eine der Hauptfiguren, nämlich der kraushaarige Luísmí, in einem aus der Perspektive seiner Cousine erzählten Kapitel als "dieses kleine Arschloch", "diese feige Schwuchtel", "undankbarer Pisser", "zu blöd und zu faul", "Schwachkopf", "Dreckskerl" und "verfluchter Hurensohn" beschimpft wird, welche Chance hat sie dann eigentlich noch? Leider keine, weil die Autorin darauf verzichtet, Luísmís Charakter aufzufächern. Ein aufgefächerter Charakter passt nicht in ihre Welt.

Jenseits der Landstraße herrscht die Ödnis von Zuckerrohrfeldern. Im Schilf, am Ufer eines Bewässerungskanals, entdecken Kinder eine Leiche, das Gesicht verwest und so von Geiern angefressen, dass es schauerlich lächelt. Schnell spricht sich herum, dass die Hexe, die vielen Frauen mit heilsamen Kräutern geholfen hat, ermordet worden ist. Um diese Hexe dreht sich hier alles.

Sie ist, am liebsten in schwarzen Frauenkleidern und mit einem Schleier vorm Gesicht, eine todunglückliche Tunte, die junge Männer zu sich ins Haus lockt, um Party zu feiern. Für die Gunst, einen jungen Schwanz lutschen zu dürfen, bezahlt sie sogar, aber ihre jaulenden Schnulzen müssen die Jungs, ermattet durch Drogen, ertragen. Ins Nachbardorf Villa fällt gern die schwule Community ein, sie feiert dort ihren Karneval, was Fernanda Melchor offenbar für geeignet hält, um ihr Sodom und Gomorrha böse funkelnd zu entfalten.

Fernanda Melchor: Saison der Wirbelstürme. Roman. Aus dem Spanischen von Angelica Ammar. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2019. 240 Seiten, 22 Euro. (Foto: Verlag)

Vielleicht aber sollte man ihren Roman als Schauermärchen lesen, als mexikanischen Garten der Lüste im Stil von Hieronymus Bosch. Was hilft es, einen stärkeren Realismus einzuklagen, um die tatsächliche Brutalität mexikanischer Drogen- und Zuhälterclans schärfer anprangern zu können, wenn sich die Autorin für ein anderes Modell entschieden hat? Immerhin erkennt man dann die große Qualität ihres Textes. Fernanda Melchor kann verdammt gut schreiben, und sie hat mit Angelica Ammar eine verdammt gute Übersetzerin gefunden. Die fiesen Scheiße- und Schwänze- und Fotzen-Wörter sind kunstvoll als Synkopen gesetzt und werten den hochliterarischen Stil noch auf.

Das Kapitel über die 13-jährige, von ihrem Stiefvater missbrauchte Norma, die bei Luísmí Zuflucht sucht, wird man nie wieder vergessen, genauso wenig wie das Kapitel über Luísmís Komplizen Brando mit den kalten, schmutzigen Sexszenen. In zwei Fällen wird das Schicksal sehr junger Mädchen geschildert, die, weil die Mütter anschaffen oder anständig in der Fabrik arbeiten gehen, den gesamten Haushalt versorgen, vor allem die kleinen Geschwister und Halbgeschwister. Denn die Väter sind längst über alle Berge. Sprachlich und atmosphärisch ist der Roman schwer zu schlagen. Als Luísmís Stiefvater Munra vor dem Haus der Hexe, das Schlimmste befürchtend, im Auto wartet, sieht er, "wie aus den dunklen Wolken ein lautloser Blitz niederging und in einen Baum einschlug, der in vollkommener Stille zu Asche zerfiel, in einer solchen Stille, dass er einen Moment lang fürchtete, er könnte taub geworden sein." Fernanda Melchor wurde 1982 im mexikanischen Bundesstaat Veracruz geboren, ein paar Romane gibt es von ihr und etliche Reportagen. Was immer gesagt wird, wenn lateinamerikanische Autorinnen und Autoren auf den deutschen Buchmarkt treffen - hier scheint es zu stimmen: Sie ist eine der wichtigsten Stimmen. Ein bisschen viel allerdings redet sie vom Teufel, er prangt sogar an einer Zellenwand im Knast, als eine in roten Linien gezeichnete Fratze, zwischen Herzen und Schwänzen und Fotzen. Am Ende versteigt sie sich in eine religiöse Deutung des Höllengeschehens, indem sie einen alten Bestatter die Toten auf ein kleines Licht in der Ferne hinweisen lässt: "Dorthin müsst ihr gehen, erklärte er ihnen, das ist der Ausgang aus diesem Loch." Dieses finstere Stück Literatur ist in seinen konkreten Bildern stärker als in seinen metaphorischen. Im Dorf zum Beispiel stecken Glühbirnen über den Haustüren. Und diese Lichter glitzern von fern, als zwei gebeutelte Frauen in der Dunkelheit zurückkehren. Die nicht leicht zu klärende Frage ist, warum Melchor für ihre Figuren keine Zuneigung aufbringt. Gerade so, als lebten in Mexiko nur Menschen ohne Herz. "Sie trug nichts zur Welt bei als das Kohlendioxid, das sie mit jedem Atemzug ausatmete", sagt Brando über seine Mutter. Das klingt zwar nach einer coolen Äußerung, aber literarisch entpuppt sie sich als kleinmütig. Noch dazu verrät sie, woran es diesem außergewöhnlichen Roman im Innersten mangelt.

Fernanda Melchor : Saison der Wirbelstürme. Roman. Aus dem Spanischen von Angelica Ammar. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2019. 240 Seiten, 22 Euro.

© SZ vom 09.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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