Feinstaubanalyse:Klopfen, saugen, züchten

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Joachim Kalka: Staub. Ein Montage-Essay. Berenberg Verlag, Berlin 2019. 150 Seiten, 22 Euro. (Foto: N/A)

Joachim Kalka bringt eine magische Substanz zum Leuchten und führt dabei von Lukrez über die Surrealisten bis zu Dagobert Duck. Staub wird bei ihm zum Erkenntnispulver.

Von Jutta Person

Anders als die Seltenen Erden, die gerade hoch im Kurs stehen, hat der Staub nicht viele Sympathisanten. Die vermeintliche Durchschnittsmaterie wird weggewischt, abgeklopft oder eingesaugt, und dabei ist doch der Staub pures Erkenntnispulver. Joachim Kalka, der Autor, Übersetzer und Universalgelehrter, der sich mit Mond und Regen, U-Booten und Katzen, Versepen und Comics befasst, widmet dem Staub einen "Montage-Essay". Das Staubsieben, erklärt er, sei eine romantische Geste: "angetrieben von der Überzeugung, dass das Abseitige, Unbemerkte und Missachtete für uns das Wichtigste sein kann".

Seine Feinstaubanalyse beginnt mit einer Bemerkung Lichtenbergs: was man "Sonnenstäubchen" nenne, seien doch eigentlich "Drecksstäubchen", hatte der Göttinger Physiker in den "Sudelbüchern" notiert. Wie geläufig der Ausdruck Sonnenstäubchen war, zeigt Kalka mit Verweis auf Schiller, um sich dann zurückzusieben bis in die antike Naturphilosophie. Die "winzigen Körperchen", die bei Lukrez als "Hilfsbild einer atomistischen Weltauffassung" auftreten, hatten in der Übersetzung als Sonnenstäubchen etwas "unangemessen Gemütvolles" - so wird der Lichtenberg'sche Blick erfasst. Der Aufklärer wende sich "gegen die implizite Poetisierung, die das strahlend-erhabene Medium, in dem Materie sichtbar wird, privilegieren will: die Sonne, und dafür sprachlich ins Unauffällige zurücktreten lässt, was diese Winzigkeiten eben 'natürlicherweise' sind: Dreck."

Kalka belässt es aber nicht bei Lichtenberg; dessen "decouvrierender" Haltung setzt er ein Gedicht des expressionistischen Lyrikers Ernst Blass entgegen, in dem der Staub materiell und schön zugleich ist. Von dort führt eine Spur zu Georg Heyms Sonettzyklus "Marathon", in dem das persische Volk den Staub küsst, den die Hufe der herrscherlichen Reiter berührt haben; eine "Signatur absoluter Unterwerfung", die wiederum zur Proskynese zählt, der antiken Geste "des auf die Knie Fallens und sich bis auf die Erde Verneigens". Eine Gebärde, die für die Griechen "den fundamentalen Gegensatz zwischen Hellas und Persien markierte", so Kalka mit Herodot.

Staub erinnert nicht nur als Memento-mori-Marker an den Zerfall der Materie

Andere Untersuchungen halb vergessener Staub- oder Entstaub-Gesten führen zum Teppichklopfen, in die Frühzeit des Staubsaugers - oder zum Phänomen Staubwolke, der die vielleicht schönste Untersuchung des Essays gilt. Die Staubwolke umhüllt nicht nur im Western den Helden, sondern kündigt quer durch die Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts das Näherrücken eines je nachdem ersehnten oder gefürchteten Objekts an, weil der Staub der Feldwege von Kutschen, Reitern und eilig dahinstiefelnden Gesellen aufgewirbelt wird. Kalka erinnert an Goethes Gedicht "Nähe des Geliebten" ("Ich sehe dich, wenn auf dem fernen Wege / Der Staub sich hebt") und an Kellers Seldwyla-Erzählung von den Kammacher-Gesellen, die bei einem Wettrennen eine furchtbare Staubwolke erzeugen.

Dass der Staub nicht nur als Memento-mori-Marker an den Zerfall der Materie erinnert, sondern umgekehrt auch ans überquellende Leben, beweist der "Blüthenstaub" der Frühromantiker. Die Staubanalyse der Kriminalromane verweist auf neue Erkenntnismethoden, der Goldstaub, der Dagobert Duck die Poren verschließt, belegt, dass es auch gefährlich teuren Staub gibt. Tödlichen sowieso, vom radioaktiven Fallout bis zu interplanetarischem Science-Fiction-Pulver. Staub steht auch für passive Verkommenheit (Gontscharows Oblomow in seinem zugestaubten Zimmer), Männlichkeit (Chandlers Detektiv, der in seinem Büro nicht zum Staubwischen kommt), Exotismus (Wüstenstaub bei Rudyard Kipling), Horror (staubige Spinnweben in zahllosen Spukgeschichten) oder schäbige Normalität (Vorstadtstraßen bei Tommaso Landolfi).

Das könnte nach motivgeschichtlichem Eklektizismus klingen, ist aber Lichtjahre davon entfernt (natürlich hat auch der Sternenstaub einen Auftritt). Denn Kalka stellt gar nichts "über" den Staub zusammen; vielmehr bringt er ihn zum Tanzen, mit verblüffenden Verbindungen und kaum bekannten oder fast vergessenen Autoren. Die Trouvaillen des argentinischen Polyhistors Alberto Manguel wirken dagegen oft etwas feinschmeckerisch.

Das vermutlich meistverwendete Adjektiv dieses Staub-Essays ist "sinister", es trifft auch seine abseitigen, sich am Verqueren freuenden Geistesblitze. Nicht zuletzt klärt Kalka über die Herkunft der surrealistischen "Staubzuchten" auf, was Leserinnen und Lesern die Möglichkeit gibt, eigene Staubzuchten in einem würdigen Kontext zu verorten. Ja, es könnte Kunst sein, was sich in abgelegenen Zimmerecken zusammenflockt.

© SZ vom 26.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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