Fantasy:Verschwörung in der Wüste

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Philip Pullmans Heldin Lyra lernt in dem neuesten Band der Reihe kritisches Denken.

Von Nicolas Freund

Ist nichts mehr als das, was es ist? Der universelle und vereinfachende Anspruch dieses Gedankens gefällt Lyra. Die Heldin von Philip Pullmans Serie "His Dark Materials" ist in dem neuen Band "Ans andere Ende der Welt" inzwischen 20 Jahre alt und Studentin in Oxford. Sie beschäftigt sich mit Politik und Wirtschaft, aber ärgert sich über den neuen Dekan, der gerade noch ein Pharma-Unternehmen geführt hat. Gestört wird das Studentenleben von der wissenschaftsfeindlichen, christlichen Regierung und dem Streit mit Lyras Dämon Pan, der eigentlich ihr treuester Gefährte sein sollte.

In bisher sieben Büchern hat Pullman eine fantastische Welt entworfen, die der unseren sehr ähnlich ist, sich aber in einigen Punkten unterscheidet. Menschen haben in dieser Welt alle einen sogenannten Dämon, ein Tier, das sprechen kann und sie überallhin begleitet. Regiert wird diese Welt streng christlich von dem Magisterium, was etwa so ist, als würde der Vatikan alles entscheiden. Auch deshalb ist diese Welt von den Menschen weniger durchdrungen, als man es erwarten würde, und im Verborgenen wimmelt es von Hexen, Gespenstern, Irrlichtern und anderen fantastischen Erscheinungen.

Mit einem Herz für Fantastik und Wissenschaft: Der Romanautor Philipp Pullman. (Foto: Carlsen Verlag)

Als Pullman seine Fantasy-Reihe 1995 mit "Der goldene Kompass" begann, sollten die Abenteuer der da noch elf Jahre alten Lyra ein Gegenentwurf zu den klassischen Romanen des Genres sein. Denn besonders die Geschichten von J. R. R. Tolkien und dem "Narnia"-Erfinder C. S. Lewis fand Pullman sexistisch, reaktionär und unreflektiert christlich. An die Stelle der Religion sollte in seinen Büchern die Wissenschaft treten, statt göttlicher Schöpfung legte er seinen Welten die Evolutionstheorie zugrunde. Fantastischem gab er trotzdem Raum und machte es zum Thema, dass die Wissenschaft oft von dogmatischen Lehren bedroht ist.

Auch in Lyras neuestem Abenteuer hat er diese Prämisse beibehalten und sogar noch ausgeweitet. In den zweifelhaften akademischen Büchern, die Lyra als Studentin liest, und einer ganzen Reihe geckenhafter Dozenten dehnt Pullman seine Kritik auf die Religionskritik selbst und das Akademische aus, wenigstens in seiner eitlen und selbstverliebten Form. Denn auch das gewohnte, beschauliche und sichere Umfeld der Universität, in dem Lyra aufgewachsen ist, kann ihr keinen vollkommenen Schutz mehr bieten, als ihr Dämon Pan zufällig einen Mord beobachtet und die beiden in eine komplexe Verschwörung um theologische und wirtschaftliche Interessensgruppen, einen unterfinanzierten Geheimdienst und eine verlorene Stadt, weit weg in Asien in der Wüste Lop Nor, hineingezogen werden. Lyra lernt, zwischen den verschiedenen, widersprüchlichen Weltanschauungen zu navigieren - und dass eben doch vieles mehr ist, als es zuerst scheinen mag. Oft ganz ohne verborgene, fantastische Welten und Wesen. Manchmal aber auch gerade wegen diesen.

Philip Pullman : Ans andere Ende der Welt. Roman. A. d. Englischen v. Antoinette Gittinger. Carlsen Verlag, Hamburg 2020. 752 Seiten, 27 Euro.

© SZ vom 09.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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