Familiengeschichte:Gespensterfreundin

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Martha Heesen: Mein Bruder, die Neuen und ich. Mit Bildern von Maja Bohn. Aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf. Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2017. 120 Seiten, 12,95 Euro. (Foto: Verlag)

Das Leben mit Geschwistern auf Zeit erfordert von dem Ich-Erzähler eine ganze Menge Toleranz.

Von Heike Nieder

Die Liebe der Eltern zu teilen ist nicht immer einfach. Schon mit den eigenen Geschwistern nicht. Was aber, wenn man die Liebe seiner Eltern mit Fremden teilen muss? Mit Kindern, die plötzlich auftauchen, das Familienleben durcheinanderbringen, und dann wieder verschwinden? Meist nicht ohne einen völlig erschöpften Vater und eine total übermüdete Mutter zurückzulassen?

Toons Eltern nehmen Pflegekinder auf. Manche bleiben nur eine Nacht, andere ein paar Tage, wieder andere mehrere Wochen. Natürlich sind diese Kinder arme Schlucker, das weiß Toon, aber sagen darf er es nicht. Wie über so einiges in seiner Familie nicht geredet werden darf. Sobald Toon oder dessen großer Bruder Jan auch nur andeuten, dass sie ihre Mutter oder ihren Vater gerne mal für sich hätten, wehrt die Mutter diesen Wunsch sofort mit den Worten ab: "Hör auf zu nörgeln! Ihr habt alles. Alles!" So kommt es, dass sich Toon manchmal insgeheim wünscht, nicht alles, sondern nichts zu haben, und selbst zu fremden Leuten zu kommen. Nur um auch ein bisschen Aufmerksamkeit abzukriegen.

Martha Heesen gelingt in "Mein Bruder, die Neuen und ich" ein außergewöhnliches Buch über eine Pflegefamilie. In sechs Kapiteln erzählt die Autorin aus der Sicht des elfjährigen Toon die Erlebnisse mit je einem Pflegekind. Jedes Schicksal bleibt ein Rätsel, und das nicht nur, weil über die Gründe, warum das Kind nicht bei seiner eigenen Familie leben kann, nicht gesprochen werden darf. So hat zum Beispiel Rufus eine Gespensterfreundin, die Toon in der Nacht begegnet und ihm sogar ein Beweisstück zurücklässt. Und ist das Verhalten Gerris der Grund dafür, dass einen alten Nachbarn ein schlimmes Schicksal ereilt?

Toon gelingt es nicht, jedes der Geheimnisse zu lüften. Was ihm allerdings gelingt, ohne dass er es beabsichtigt, ist, das Vertrauen der Pflegekinder zu gewinnen. So hilft er, manchmal, ohne es zu wollen. Eine offene Rebellion schafft er indes nicht. Anders als sein Bruder, der Leistungsschwimmer, der den Neuankömmlingen seine Überlegenheit gerne zeigt.

Das Buch ist trotz der Probleme Toons in dieser ungewöhnlichen Familienkonstellation alles andere als schwermütig oder beispielhaft belehrend. Das liegt an der frischen Sprache des Ich-Erzählers, wieder virtuos ins Deutsche übertragen von Rolf Erdorf. Und, nicht zu vergessen, an den wunderbaren Cartoons von Maja Bohns, die die manchmal absurden Situationen in dieser ungewöhnlichen Familie gekonnt in Szene setzt. (ab 9 Jahre)

© SZ vom 12.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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