Fallgeschichte:Der zweite Sohn

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Pascale Robert-Diard ist die Gerichtsreporterin der französischen Tageszeitung "Le Monde" und erzählt die wahre Geschichte eines lange vertuschten Mordes, unter dem eine ganze Familie litt.

Von Lothar Müller

Dieses Buch beginnt mit der Verurteilung des Täters. Es ist kein Kriminalroman. Es ist die Geschichte eines realen Mordfalles, der in Frankreich seit den spätern Siebzigerjahren Aufsehen erregte. Pascale Robert-Diard, die das Buch geschrieben hat, ist Gerichtsreporterin der Pariser Tageszeitung Le Monde. Sie war dabei, als das Geschworenengericht Ille-et-Vilaine am 11. April 2014 den Angeklagten Maurice Agnelet schuldig sprach, im Zeitraum zwischen dem 26. Oktober und dem 2. November 1977 seine damalige Geliebte Agnès Le Roux ermordet zu haben.

Pascale Robert-Diard hatte den spektakulären Fall für ihre Zeitung verfolgt, sie berichtete auch über die letzte Sitzungsperiode des Gerichts, die am 7. April begann, und über den Urteilsspruch vier Tage später. Aber erst danach begann die Recherche, die diesem Buch zugrunde liegt, das den juristisch abgeschlossenen Fall - ein Antrag auf Revision wurde 2015 abgelehnt - noch einmal aufrollt, und zwar aus der Perspektive von Guillaume Agnelet, einem der drei Söhne des Angeklagten.

Zwei Detectives der örtlichen Polizei betrachten die Leiche der Schauspielerin Carole Landis, die 1948 an einer Überdosis Seconal starb. (Foto: Jim Heimann: Dark City. The Real Los Angeles Noir)

Denn Guillaume Agnelet hatte am ersten Tag der letzten Sitzungsperiode für die spektakuläre Wende des Prozesses gesorgt, in dem, wieder einmal, ein Freispruch mangels Beweisen im Bereich des Möglichen lag. Nie war die Leiche des Opfers aufgetaucht, nie der Range Rover gefunden worden, in dem sie ihre letzte Reise angetreten hatte. Stets hatte der Angeklagte bestritten, dabei ihr Begleiter gewesen zu sein. Stets, in allen vorangehenden Prozessen, war Guillaume Agnelet als Zeuge für seinen Vater aufgetreten, zugunsten des Vaters. Erst die unerwartete Aussage, in der er nun den Vater schwer belastete, machte die Verurteilung möglich. Darum heißt das Buch im Original "La Déposition", die Zeugenaussage.

Die Spannung, die ein Kriminalroman aus der Frage gewinnt, wer der Täter war, entsteht hier aus der Frage, wie es zu dieser Aussage kam, die ein Schweigen brach, das in der Familie des Angeklagten jahrzehntelang herrschte. Unmittelbar nach dem letzten Prozesstag begann Pascale Robert-Diard ihre Recherche: "Ich schrieb Guillaume Agnelet einen langen Brief. Er antwortete." Die Gerichtsreporterin verwandelte sich in eine Gesellschaftsreporterin, die der Entstehung und Konservierung eines Familiengeheimnisses bis zum dramatischen Moment nachspürt, in dem es spektakulär aufgehoben wird.

(Foto: sz)

Als eine Art Ghostwriterin von Guillaume Agnelet erzählt sie die Geschichte der Familie Agnelet mit Maurice Agnelet, dem Vater, Anwalt und Frauenhelden in der Schlüsselrolle. Seine Ehefrauen und Geliebten, seine Anwälte und die Staatsanwälte, seine drei Söhne umgeben ihn. Die Gerichtsreporterin porträtiert die Juristen, der Sohn liefert ihr das Material zum Gruppenporträt der Familie. So entsteht Zug um Zug die Geschichte einer Vertuschung.

Nicht nur in die Familie des Opfers, sondern auch in die des Täters schlägt der Mord mit Wucht ein. In der einen erzeugt er einen Krater des Schweigens, in der anderen entbindet er die Energien immer neuer Anläufe, den Hauptverdächtigen zu überführen. Agnès Le Roux war Kind einer wohlhabenden Familie an der Côte d'Azur, zum Erbe ihres verstorbenen Vaters gehörten Anteile an der Spielbank in Nizza an der Promenade des Anglais. Als ihr Scheidungsanwalt wurde Maurice Agnelet ihr Liebhaber. Nach dem Verschwinden trugen zum Aufsehen, das der Fall jahrelang erregte, dieses Milieu, in dem die Mafia mitspielte, der Ruf des Verdächtigen als Lebemann und das Geld bei, das von den Konten von Agnès Le Roux auf die von Maurice Agnelet floss.

Im Zentrum des Falles, wie er aus der Sicht des mittleren Sohnes erscheint, steht ein Satz, den er zum ersten Mal als Vierzehnjähriger im Jahr 1985 hörte: "Solange sie die Leiche nicht finden, habe ich nichts zu befürchten." Er fällt in der ersten von drei Szenen, in denen der Vater mehr oder minder direkt den Mord gesteht. Pascale Robert-Diard erzählt, was Guillaume ihr über das Echo dieses Satzes bei ihm, bei seinen Brüdern, bei den Ehefrauen des Vaters hinterlassen hat, die rasch zu Ex-Ehefrauen wurden - und Zeuginnen in den Prozessen gegen Maurice Agnelet.

Die erste Ehefrau, Mutter der drei Söhne, ist die unbeirrbare Garantin des Schweigens, der Unschuldsfiktion. Die Gerichtsreporterin ist in ihrem Element, wenn sie die juristischen Anläufe zur Klärung des Falles noch einmal erzählen und in den Erlebnishorizont des einzigen Familienmitglieds rücken kann, das am Ende das Familiengeheimnis brechen wird. Das Rätsel lösen, warum das Schweigekartell so lange hielt, kann sie nicht. Dafür hätte sie die große, multiperspektivische Recherche unternehmen müssen, deren Gegenstand sich in diesem schmalen Buch abzeichnet.

Anders als die Originalausgabe erweist die deutsche Ausgabe durch ihren Titel "Verrat" der Perspektive des Schweigekartells Reverenz. Nur für seine Familie wurde Guillaume Agnelet durch seine Aussage am 7. April 2014 zum Verräter. Er selbst hatte dem Richter zu Protokoll gegeben, sich endlich aus einer Verstrickung befreit zu haben, die sein eigenes Leben in den Abgrund zu ziehen drohte.

Pascale Robert-Diard: Verrat. Das dunkle Geheimnis der Familie Agnelet. Aus dem Französischen von Ina Kronenberger. Paul -Zsolnay -Verlag, Wien 2017. 160 Seiten, 18 Euro. E-Book 13,99 Euro.

© SZ vom 28.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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