"Everyday Life", das neue Album von Coldplay:Dann blieb es einfach so

Lesezeit: 3 min

"Coldplay", bekannt für akkurat geplanten, kaschmirweichen Stadionpop, erlauben sich auf ihrem neuen Album "Everyday Life" ein paar skizzenhafte Überraschungen der eher leisen Art.

Von Max Fellmann

Es war halt auch ein bisschen voreilig. Vor ein paar Tagen hat Chris Martin verkündet, neues Album hin oder her, für den Klimaschutz würden Coldplay auf eine Welttournee verzichten. Umgehend Spott und Häme allüberall, wie soll das gehen, glaubt doch kein Mensch, natürlich werden die Konzerte geben, was denn sonst. Jetzt müssen sich die vier überlegen, wie sie da wieder rauskommen. Letzte Auskunft: Man werde Konzerte geben, prüfe aber noch, wie das klimaneutral zu machen sei. Hm, aha, jaja.

Aber erstens ist die grundsätzliche Haltung natürlich sympathisch. Es wäre großartig, wenn sie es irgendwie schaffen, den CO₂-Irrsinn einer Welttour mit Flugzeugen und Sattelschleppern zu vermeiden. Und zweitens steht Coldplay die spontane Unbedachtheit ganz gut. In den letzten zehn Jahren wirkte bei dem englischen Quartett vieles so wahnsinnig akkurat durchgeplant. Die politischen Aussagen, die Optik, die Bühnen - und die Musik ja sowieso: jeder Ton perfekt produziert, kaschmirweicher Pop, gefühlig bis zum Abwinken, aber immer gerade noch tanzbar genug, um die Menschen auf die Beine zu bringen. Musik, mit der man Fußballstadien ausverkaufen kann und die jedem Besucher von selbst ein brennendes Feuerzeug in der Hand wachsen lässt. Damit wurden Coldplay zu einer der größten Bands der Gegenwart - und mit dem Erfolg, wie es ja leider oft so ist, wurde die Band musikalisch immer uninteressanter.

Wie man das unvermeidliche Bandfoto doch noch spannend gestaltet, Folge 1001: Coldplay und die halb vergammelte Flohmarkt-Postkarte. (Foto: Tim Saccenti/Warner)

Und jetzt aber: "Everyday Life", ein Album, das in vielen Momenten verblüffend ungeplant klingt, heterogen, im allerbesten Sinne zusammengewürfelt. Sicher, da gibt's schon auch wieder die Songs, auf denen riesengroß "Stadion" steht, "Massenkuscheln" und "Charismatischer Sänger tanzt auf einem Bein". Zum Beispiel "Church" oder die Single "Orphans", sanfte Beats, Synthesizerwolken, akustische Wellnessbereiche. Noch dazu der etwas prätentiöse Quatsch, ohne den es dann halt doch nicht geht: Coldplay nennen das Ganze ein "Doppelalbum auf einer CD", unterteilt in eine Sonnenaufgangs- und eine Sonnenuntergangs-Hälfte. Ja nun.

Man fragt sich, ob Chris Martin nicht doch heimlich ein Fan von "Supertramp" ist

Aber dann finden sich unter den insgesamt 16 Songs doch ein paar Überraschungen, und das muss man der Band, die es jetzt auch schon seit mehr als 20 Jahren gibt, hoch anrechnen. "Trouble In Town" zum Beispiel, ein ganz leiser Offbeat, gerade mal so dahingebrummter Gesang, klingt, als sei es eigentlich nur ein Entwurf gewesen - aber dann blieb es einfach so, und ist gerade dadurch: wirklich sehr hübsch. "Daddy", nur Klavier und Stimme, bleibt so verhalten, dass es fast nicht da ist. Beinahe Minimal Music, mit den Mitteln des Pop. Oder die Skizze "WOTW/POTP", offenbar im Garten aufgenommen, akustische Gitarre, leiser Gesang, Vogelgezwitscher. Wie gut, dass die Band darauf verzichtet hat, das im Studio noch mit Synthesizern hochzubombasten.

Überhaupt, das Skizzenhafte, nur kurz Hingetuschte: Coldplay gönnen sich Halbheiten, ersticken nicht alles unter Klangteppichen, sondern belassen es auch mal beim Tasten. Mittendrin ein Klavierstück, das wie eine sentimentale Verbeugung vor der Musik Chopins klingt, ganz simpel, kein Gesang. Oder "Old Friends", fast klassisch gezupfte Akustikgitarre, wunderschön, es könnte ein Fundstück aus dem Nachlass von Nick Drake sein. "BrokEn": ein Gospel, so richtig mit Chor, ohne jede Pop-Anwandlung. "Oh Lord, shine your light on me" singt Martin, gar nicht broken, sondern ganz geradeaus eine Huldigung, die verblüffend gut aufgeht. Später kommt sogar ein eigenartiges Kirchenchorlied, das rätselhaft im Weg steht, aber einfach so bleiben durfte. Und dann noch der überraschendste und vielleicht auch schönste Song des Albums: "Cry Cry Cry". Eine kleine altmodische Akkordfolge auf dem Klavier, wie sie Randy Newman gern daherklimpert, darunter ein minimaler Computer-Beat, nur eine kurze Schleife. Darüber singen Chris Martin und eine Mickymaus-Stimme aus dem Computer im Duett eine Art Fünfzigerjahre-Schlager. Sehr besonders. Man fragt sich bei diesem Stück, ob Chris Martin nicht doch ganz heimlich Supertramp-Fan ist (viele von uns Supertramp-Fans behandeln diese Leidenschaft ja eher diskret, weil uncool und so).

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Ja, mit ihrem achten Album schlagen Coldplay ein paar hübsche Haken, damit war nicht unbedingt zu rechnen. "Everyday Life" ist auf gute Weise eine Mogelpackung. Viel ®Coldplay drin, aber dann eben doch auch: alles mögliche. Wie schön, dass die vier nicht auf der Stelle treten, sondern nach neuen Wegen suchen. Dieses Mal sind sie damit bei den ganz, ganz leisen Tönen gelandet. Als nächstes, so in zwei Jahren, dürfte gern mal ein krachiges Album folgen, mit lauten E-Gitarren, wie sie es auf ihren ersten zwei Alben ja auch noch konnten. Gut möglich, dass sie es probieren. Von hier aus ist der Weg frei in alle Richtungen.

© SZ vom 03.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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