Europa und Russland:Dieses Frösteln

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Folter, Mord und Korruption. In Europa laufen Ressentiments gegen Russland dem Anti-Amerikanismus inzwischen fast den Rang ab.

Sonja Zekri

Zuerst die schlechte Nachricht: Das Böse ist zurückgekehrt in die Welt, und es spricht russisch. Es beschwört Demokratie und Meinungsfreiheit, aber in Wahrheit vertuscht es Folter, Mord und Korruption. Als ein Journalist unangenehme Fragen stellte, drohte ihm das Böse mit der Entmannung: "Kommen Sie doch nach Moskau, um sich beschneiden zu lassen, und wenn Sie ein richtiger islamischer Radikaler werden wollen, empfehle ich die Operation so durchzuführen, dass nichts nachwächst."

Putin-Porträt auf einem Moskauer Platz im Oktober 2007. (Foto: Foto: Reuters)

Das Böse verhöhnt die ermordete Kremlkritikerin Anna Politkowskaja, die für die Nowaja Gaseta aus Tschetschenien berichtete, noch nach ihrem Tod: Eine unbedeutende Außenseiterin sei sie gewesen, eine Radikale, ihre Ermordung habe Russland mehr geschadet als ihre Artikel. Das Böse ist blass, nicht sehr groß, aber drahtig, es hat einen Labrador namens Koni, der in Sankt Petersburg gerade ein Denkmal bekommt, und mag Anna Karenina. Es heißt Wladimir Putin.

Jetzt die gute Nachricht: Das Gute ist ebenfalls zurückgekehrt. Und es spricht deutsch. Am Sonntagabend war es in Potsdam anzutreffen, im malerisch an der Havel gelegenen Hans Otto Theater, wo sich die Menschen in tiefer Sorge um den russischen Sonderweg versammelten. Am 7. Oktober vor einem Jahr wurde Anna Politkowskaja ermordet. Es war der Geburtstag des russischen Präsidenten.

Wie ein irrer Gartenzwerg

Das Hans Otto Theater hat dieses hochsymbolische Zusammentreffen zum Anlass genommen, um einen "Abend für Anna Politkowskaja" zu gestalten mit dem Titel "Putin hat Geburtstag", den die Veranstalter als aufrüttelnde, mutige Tat begriffen haben wollen. "Sind wir im Westen stark genug, diesen Opfern, diesen schrecklichen Schicksalen eine Stimme geben zu können?", fragte der Intendant Uwe Eric Laufenberg in der Diskussion nach dem Stück. Russlands Zukunft, man ahnt es, liegt in den Händen des deutschen Stadttheaters, oder zumindest des kleinen Häufleins Unerschrockener, die in Deutschland noch ein Gewissen haben.

Das klang nach Hybris. Und es war Hybris. Selten sei sie so überzeugt gewesen "von der absoluten politischen Notwendigkeit eines Themas für das Theater", schrieb Petra Luisa Meyer, Autorin und Regisseurin, im Programm. Ihr Stück ist eine Collage aus Politiker-Reden, Reportagen und Büchern wie den Schriften Anna Politkowskajas, Arkadi Babtschenkos entsetzlich poetischem Tschetschenien-Report "Die Farbe des Krieges" und den Beslan-Protokollen von Julia Jusik, die Meyer Putins Gästen in den Mund legt.

Der dramaturgische Aufwand ist überschaubar: Zu Beginn schiebt Roland Kuchenbuch als Gerhard Schröder eine plantschbeckengroße Torte auf die Bühne, aus der ein russischer Soldat springt, dann lümmeln Schröder und Putin (Andreas Hermann) an der Tafel herum, plaudern über Wirtschaft und singen "Moskau, Moskau, wirf die Gläser an die Wand/Russland ist ein schönes Land/Hohohohoho! Ha!", während die Putin-Opfer Entsetzliches berichten.

So ganz scheint die Autorin der Beweiskraft ihres Materials allerdings nicht vertraut zu haben, denn immer wieder flickt sie fiktionale Passagen ein. Am Ende springt Putin wie ein irrer Gartenzwerg auf den Tisch und erklärt noch einmal, was von ihm zu halten ist: "Pokerface, 56 Jahre, unnachgiebig, undurchsichtig: Wladimir Wladimirowitsch Putin. Gasputin."

Einmal schweben silberne Leichensäcke von der Decke, Putins Geburtstagsgeschenke: "Was haben wir denn hier? Oh, da ist aus Versehen ein Tschetschene eingepackt!", flachst der Moderator, und man ahnt, was dieser biedere Abend hätte werden können: Eine technische Studie in Entmenschlichung, eine Sorokinsche Orgie zwischen Schrecken und Groteske.

Aber nicht um Verunsicherung ging es in Potsdam, sondern um Gewissheit, nicht ums Begreifen, sondern ums Gefühl, um ein monumentales Entsetzen. Ein junger Veteran trägt vor, wie russische Soldaten die Männer eines Dorfes kastrieren, weil die Tschetschenen ihre Kameraden gekreuzigt und ebenfalls verstümmelt haben. Eine Mutter berichtet, wie sie nach der Geiselnahme in Beslan die Leichenhaufen durchwühlt, um ihren verbrannten Sohn zu finden. Es sind wahre Geschichten und vielleicht nicht mal die schlimmsten aus Beslan und aus dem Kaukasus, aber in dieser kahlen Kontextlosigkeit bleiben sie billige Schockeffekte, anti-aufklärerisch und verliebt in die eigene Entrüstung.

Man müsste einmarschieren

Russland, so lernt man, besteht aus Gewalt, Willkür, Gas und Öl, und dass das Land immer wieder Heilige wie Anna Politkowskaja hervorbringt, die "Pietà der Nowaja Gaseta", lässt den Abgrund nur noch düsterer erscheinen und Russland noch fremder, demokratieresistenter, asiatischer. "Hat Russland auf dem Weg zur Bürgergesellschaft noch eine Chance?", fragte Lea Rosh in der anschließenden Diskussion. Es war eine rhetorische Frage. Niemand widersprach. Russland ist nicht mehr zu retten. Russland schafft es nicht allein. Wenn die Idee nicht so kompromittiert wäre, müsste man jetzt einmarschieren.

Nun könnte man den Abend in Potsdam einfach als selbstgefällige Agitprop-Veranstaltung abtun, wenn er nicht beispielhaft für ein Ressentiment wäre, das dem Anti-Amerikanismus inzwischen fast den Rang abläuft. So wie George W. Bush oft mit Amerika verwechselt wird, setzt man nun Putin mit Russland gleich. Despotien sind immer eine intellektuelle Unterforderung, aber für die großen Vereinfacher ist Russland derzeit die schönste Spielwiese. Der britische Schriftsteller Martin Amis lässt in seinem maßlos geschwätzigen Buch "Koba der Schreckliche", einem von zahlreichen anderen zum Stalinismus in diesem Herbst, Martin Amis jedenfalls lässt den Diktator als Leibhaftigen mit gelben Augen wieder auferstehen und das russische Volk als Schlachtvieh.

Mit herablassender Bewunderung schreibt er über das "Engagement" Russlands im Krieg ("typisch monumental", "sie liebt Blut, die russische Erde") und hadert scheinheilig mit der "andauernden Hilflosigkeit Russlands". Einmal vergleicht er die Konzentrationslager mit dem Gulag, und konstatiert, dass die Fahrt nach Sibirien länger und der Durst quälender war: "Es stellt sich unausweichlich die Frage nach dem Stoizismus und dem Humor der Russen, und nach dem Gehorsam des Russen gegen den Hirten der Herde."

Es stellt sich aber auch die Frage, wann sich der Westen endlich die Mühe eines realistischen Russland-Bildes macht. Denn das Unbehagen beim Blick nach Osten hat ja nicht nur damit zu tun, dass der Westen plötzlich entdeckt hat, wie sehr er von russischen Bodenschätzen abhängt und der Kreml keine Gelegenheit auslässt, um ihn daran zu erinnern. Dieses Frösteln ist nur die Gegenreaktion zu den romantischen Illusionen nach dem Ende der Sowjetunion.

Dass die Russen die neunziger Jahre eben nicht oder nicht nur als Aufbruch zu demokratischen Ufern wahrgenommen haben, sondern als eine traumatische Zeit der Armut und der Schande, dass sich die meisten heute weniger als Unterdrückte, denn als Überlebende begreifen, dass man Pressefreiheit weder im Westen noch im Osten essen kann, das hat in der Genugtuung über das Ende des Bolschewismus und über die deutsche Wiedervereinigung kaum jemand bemerkt.

Man muss den Putinschen Byzantinismus nicht billigen, nicht die undurchsichtigen Rochaden, nicht die tödlichen Risiken für Regimegegner, um dies ins Kalkül zu ziehen. Ansonsten müsste man Russland nämlich als geradezu naturhaft unfreies Land betrachten, eine Haltung, die einen Namen hat: Man nennt es Rassismus.

© SZ vom 10.10.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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