Im vorigen Jahr, als Henning Mankells Essayband "Treibsand" in Schweden erschien, wussten weder der Autor noch seine Leser, dass es sich um sein letztes Buch handelte. Zwar war ihm bei der Krebsdiagnose, die er Ende 2013 erhalten hatte, kaum Aussicht auf Heilung gewährt worden, aber der Pragmatismus, mit der er nach dem ersten Schock sich einerseits dem Instrumentarium der Schulmedizin anvertraute, andererseits das Schreiben als Selbsttherapeutikum einsetzte, nährte bei dem schwedischen Schriftsteller wie bei seinen Lesern die Hoffnung, es könnten noch weitere Werke folgen. Die deutsche Version wurde dann so kurz vor seinem Tod veröffentlicht, dass ihr von Anfang an der Charakter eines Vermächtnisses anhaftete. Und wie ein Omen erscheint es nun, dass die Anzahl der Kurzkapitel, 67 sind es geworden, exakt dem Lebensalter entspricht, das Mankell erreichte.
Für die vielen Krebs-Bücher, die neuerdings, proportional zum Anstieg der Erkrankungen, den Markt überschwemmen, hat sich schon jemand den Genrebegriff "Pathografie" ausgedacht. Professionelle Schreiber, so lautet eine leicht makabre Übereinkunft, sind in dieser Hinsicht privilegiert, weil sie das Handwerkszeug besitzen, das ihnen einen kreativen Umgang mit der Krankheit gestattet und es ihnen erleichtert, die Öffentlichkeit an dem dazugehörigen Erfahrungsprozess teilhaben zu lassen.
Nach schwedischen Maßstäben mag Mankell predigen, nach deutschen plaudert er
Henning Mankell, als Patient so rastlos produktiv wie in gesunden Tagen, hat von diesem Privileg eher rücksichtsvollen Gebrauch gemacht. Bei den Aufzeichnungen, die während des ersten Halbjahrs nach der Diagnose entstanden, handelt es sich nicht um ein Verlaufsprotokoll, sondern um eine Sammlung von Gedanken und Szenen, die von intimsten persönlichen Erinnerungen bis zur Reflexion über die großen Menschheitsfragen reichen.
Gewiss wird all das durch die plötzliche Todesnähe ausgelöst und eingefärbt, auch kommt die Krankheit mit ihren Begleiterscheinungen immer wieder vor. Aber der Fokus liegt auf dem, was ihn, den politisch engagierten, historisch interessierten und weitgereisten Schriftsteller in der Spätphase seines Lebens ohnehin beschäftigte: Vergangenheit und Zukunft der Menschheit, ihre Verantwortung für den Planeten, gesellschaftliche Missverhältnisse und globale Katastrophen - und jene Momente der eigenen Biografie, in denen sich das Allgemeine im Privaten, das Universelle im Individuellen zu spiegeln schien.
In seiner Heimat Schweden fühlte Mankell sich häufig unterschätzt, reduziert auf seinen Ruhm als Krimiautor, ungeachtet seines facettenreichen Wirkens als Essayist, Journalist, Dramatiker, Regisseur und Verfasser früher politischer Romane. Bei seinen deutschen Lesern hingegen hatte er im Laufe der Jahre einen Status gewonnen, der seine Zuständigkeit auch für "letzte Fragen" durchaus plausibel wirken lässt: "Was es heißt, ein Mensch zu sein", lautet der Untertitel in der deutschen Fassung. Im Innern des Bandes wird dieser Erklärungsanspruch freilich wieder relativiert durch die prinzipielle Pathosferne der schwedischen Sprache.
Nach schwedischen Maßstäben mag Mankell predigen, nach deutschen plaudert er. Und grübelt. Das allerdings: Auch ohne die Krebserkrankung hätte er seine Seelenverwandtschaft mit dem schwermütigen Kommissar Wallander nicht verleugnen können. Die schonungslose Sachlichkeit im Umgang mit Leben und Tod, die Weigerung, durch Glaubensinhalte irgendwelcher Art etwas zu verbrämen oder zu beschönigen, erinnern ebenfalls an das kriminalistische Milieu. Ansonsten zeigt der Autor sich hier von einer Seite, die vielleicht auch im deutschen Publikum manch einer nicht an ihm vermutet hätte: als großer Liebhaber von Musik und Kunst sowie, überraschend genug, als jemand, für den die "Lebenslust", die Freude am erfüllten Augenblick, in jeglicher existenziellen Situation den unabdingbaren Impuls zum Weitermachen darstellt.
Natürlich enthält der Band auch biografischen Stoff, von kindlichen Traumatisierungen (die in der Tat eine lebenslange Depression rechtfertigen) über die Theaterarbeit in Mosambik bis hin zu den Therapie-Erfahrungen der letzten Lebensphase; Erzählungen von Reisen und menschlichen Begegnungen. Aber wer Memoiren sucht, ist besser bedient mit Kirsten Jacobsens Gesprächsbiografie "Mankell über Mankell", die bei uns vor zwei Jahren erschienen ist.
Hier dagegen arbeitet die Erinnerung unsystematisch, filtert jene Ereignisse heraus, von denen sich, im Nachhinein oft überraschend, eine Verbindungslinie zum eigentümlichen Daseinsgefühl des Moribunden ziehen lässt. Der Titel "Treibsand" verdankt sich dem Albtraum vom Versinken in der Mischung aus Sand und Wasser, den Mankell in seiner Jugend mehrmals hatte. Durch die Abenteuerliteratur ist der Treibsand, ein in seiner Gefährlichkeit überschätztes Phänomen, zum Mythos geworden. Hier dient er als Metapher für die Angst, gegen die der Schwerkranke ständig ankämpfen muss. Orientierung und Kraft gibt ihm die Erkenntnissuche, in der er seine eigene Sterblichkeit auf die der ganzen Menschheit projiziert.
Die Frage nach dem "Woher" und dem "Wohin", in ihrer individuellen wie globalen Dimension, beleuchtet er in immer neuen Konstellationen, anschaulich und zuweilen drastisch, dabei frei von Besserwisserei oder Bitterkeit. Dass ihn der fahrlässige Umgang der Erdbevölkerung mit dem atomaren Abfall besonders intensiv beschäftigte, mag seiner Konfrontation mit dem Krebs geschuldet sein, doch allein schon die Fakten, die er zusammengetragen hat, qualifizieren den Band zur Pflichtlektüre für heranwachsende Generationen. Zumal Mankells "Mantra", das er am Schluss seiner Kassandra-Rufe formuliert, einen winzigen Hoffnungsschimmer aufscheinen lässt: "Für nichts ist es jemals zu spät. Alles ist immer noch möglich."
Die fast kindliche, trotzige Zuversicht konnte dem Sterben zwar keinen Einhalt gebieten, aber sie war die Voraussetzung dafür, dass dieses Buch entstehen konnte.
Henning Mankell: Treibsand. Was es heißt, ein Mensch zu sein. Aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2015. 384 Seiten, 24,90 Euro. E-Book 18,99 Euro.