Essayistik:Poetische Vortriebsmaschine

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Botho Strauß bohrt sich in die Tiefe des Erdinneren und sendet rätselhafte Klopfzeichen an die Oberfläche.

Von Christoph Bartmann

Der Vorposten, von dem aus Botho Strauß hier die Welt ins Auge fasst, ist das Bett. "Nie war ich unterwegs, ohne im Bett zu liegen", heißt es an einer Stelle, ein Satz, den auch André Breton hätte schreiben können, wenn auch in anderer Absicht. Bei Strauß geht es nicht darum, die Kräfte des Rausches und des Traums für die Revolution zu gewinnen, sondern umgekehrt, alles Tagaktive einzusenken in den Bezirk des Traums. Bei diesem Vorhaben fühlt er sich allein. Die Gegenwärtigen haben das Träumen verlernt, deshalb muss man ihnen mit Erklärungen entgegenkommen.

Die erotischen Reflexe sind zwar noch intakt, aber nur mehr als "Traumliebeskampf"

Den oben zitierten Satz lässt Strauß nicht allein stehen, er setzt ihm eine Erläuterung voran: "Wahrscheinlich versteht man meine Wahrnehmungseinbettung nicht mehr." Denn wer heute von Einbettung spricht, denke an alles, außer an das schlichte Bett, auf dem die Metapher ruht. Weil das so ist, kann Botho Strauß nicht einfach nur in Ruhe träumen. Er muss sich außerdem auch immer Sorgen machen um die Heutigen und was sie alles nicht mehr können und verstehen. Das "Onirische", griechisch für träumerische Gespinste, hat, wie Strauß bemerkt, in den europäischen Sprachen kaum Spuren hinterlassen. "Oniritti" sind, so Strauß, "Bildschriften auf den Höhlenwänden der Nacht", Inschriften unbestimmter Herkunft und rätselhaften Inhalts, ähnlich den Höhlenmalereien von Lascaux, verknüpft "durch das Band eines Themas, dessen Sinn wir nicht kennen", wie Strauß den Paläontologen André Leroi-Gourhan zitiert, einen seiner intellektuellen Gewährsmänner seit "Paare Passanten" aus dem Jahre 1981. Strauß' geistige Koordinaten sind beinahe dieselben geblieben, aber es scheint, als hätte er sich ein paar Klafter tiefer in die Erde versenkt, weg vom Tageslicht, weg auch von den Paaren und Passanten, hinab in den innersten Fels, wo niemand haust außer vielleicht ein paar Erdmännchen.

Botho Strauß: Oniritti Höhlenbilder. Carl Hanser Verlag, München 2016. 288 Seiten, 22 Euro. E-Book 16,99 Euro. (Foto: verlag)

Es ist großartig und auch schön komisch, wenn Strauß mit Novalis den romantischen Bergwerkskundler heraufbeschwört: "Über Schrofen und Zacken geht's inwendig langsam voran. Doch vorm Massiv der Gesinnung und Belange setzen wir bei der Ortsbrust an die poetische Vortriebsmaschine und schälen allmählich den Tunnel in den Fels.Den Bergdruck kennen!" Nicht immer ist Strauß in seinen Büchern mit poetischem Vortrieb dem Massiv der Gesinnungen ausgewichen. Manchmal bot er statt Traumbilder auch eine zivilisationsmüde Kulturkritik an, die sich leicht als ziemlich rechts gewirkt missverstehen ließ.

Nicht so in "Oniritti": Hier entdeckt man ohne Mühe, wenn auch einige Oktaven tiefer gelegt als in den frühen Büchern, den guten, feinen, grotesken, traumverlorenen und schon deshalb den Gesinnungen und Belangen eher fernen Strauß wieder. Oder doch beinahe. Dass sich Botho Strauß mit der Gegenwart, beispielsweise mit dem, was man gemeinhin "digital" nennt (und mit dem er dann doch auch aufs Engste vertraut ist), noch anfreunden wird, ist nicht zu erwarten. Ebenso wenig wird ihm die Massenkultur ein besonderer Grund zur Freude sein. Zu den Höhlen, an deren Wände Schrift-Bild-Rätsel zu entziffern sind, hätten nur diejenigen Zugang, die sich einen Pfad bahnen "durch den beinahe undurchdringlichen Dschungel leichtsinniger Kunst". Der Pfad ist schwer zu finden und der Weg weit, aber wer kann und will, vermag, mit "Glut und Geduld", zum Glasbläser seiner Gedanken zu werden. Das alles hat wenig mit Kritik zu tun, aber viel mit Trance. Und mit Lektüre.

Die "Hypnerotomachie", der Traumliebeskampf, eine jener Strauß'schen Wortwiederfindungen, findet literarische Nahrung an Francesco Colonnas gleichnamigem Roman von 1499. Die "Oniritti" sind "bloß" ein Kommentar zu diesem Buch, eine Aneignung und Weiterdichtung dieses mysteriösen Renaissance-Romans, und zwar "mit erhöhter Neugierde für seine hieroglyphischen Exzesse". Angerichtet ist dieses manieristische Welttheater auf einer Art Bühne, die so dunkel ist wie das Erdinnere. Wenn Botho Strauß noch einmal ein Stück schriebe, käme es wohl aus dieser Sphäre der Reklusion, ja der Klaustrophilie zu den Lebenden herauf.

Immerhin lässt die zentrale Stellung des Traumliebeskampfes in diesem Buch noch den Erotiker erkennen, der Strauß in seinen besten Stücken und Prosatexten war. Er hat sich traum- und höhlenwärts verlagert oder gar "fossilisiert", aber die Reflexe sind noch intakt. Vielleicht ist aber "Verführung" heute etwas, von dem man besser nur noch träumt, weil die einschlägigen Kulturtechniken in Verruf geraten sind oder nicht mehr beherrscht werden. Auf anderthalb Seiten entwirft Strauß ein helldunkles Traumszenario einer gescheiterten Annäherung, die - ohne Kulturkritik geht es nun mal nicht - in die Diagnose mündet, "im Grunde" sei seit der sexuellen Revolution "das Werben vollständig aus den Annäherungen herausgekürzt".

Dass der Verzicht auf Zeitkritik also doch nicht konsequent eingehalten wird, macht "Oniritti" zu einer so vergnüglichen und reichen Lektüre. Und es geht auch über bloße, blasse Gegenwartsdiagnostik hinaus, wenn Strauß konstatiert: "Das Wort Eros, erotisch sinkt immer tiefer, ich kann's nicht aufhalten, und es versinken all die Unbegreiflichkeiten, Unhandgreiflichkeiten, die es einst anzeigte." Deshalb also senkt sich das ganze Strauß'sche Universum unaufhaltsam in Richtung Erdinneres: weil erotischen und all die anderen Phänomene, die er einst über Tage beobachtete, mit der Zeit abgesunken sind in die Tiefe. Wo einst Türen waren, sind jetzt Höhleneingänge. Dem mag man auf der Erdoberfläche zwar widersprechen, aber das nimmt der poetischen Intuition nichts von ihrer Geltung. Botho Strauß ist mit "Oniritti", diesen so hermetischen wie augenöffnenden Notizen, jenseits des literarischen Realitätsprinzips etwas Großes gelungen.

© SZ vom 29.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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