Essay:Wehmut in Wermut

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Der Lyriker Jan Wagner sucht in seinem Essayband "Der veschlossene Raum" das Geheimnis des Gedichts. Man findet in diesem Band funkelnde autobiografische Reminiszenzen und Kabinettstückchen zur "Magie zweiter Ordnung".

Von Helmut Böttiger

Wenn schon im ersten Satz Ortsnamen wie "Mergentheim" oder "Wermutshausen" auftauchen, spürt man sofort die Richtung, die der Lyriker Jan Wagner am liebsten einschlägt. Den Ort "Wermutshausen" gibt es wirklich, in seinem Namen verbindet sich die Wehmut mit dem Rausch, und der Dichter Eduard Mörike suchte dort gelegentlich Zuflucht. Die Dankesrede zum Fellbacher Mörike-Preis eröffnet Jan Wagners Band mit "beiläufiger Prosa", und diese Gattungsbezeichnung verrät etwas von der Chuzpe, die zu seiner Ästhetik gehört.

Wagner ist Lyriker. Wenn er Prosa schreibt, geschieht das eher "beiläufig". Zugleich unterwandert der Untertitel die üblichen Kategorisierungen von "Selbstzeugnissen" des Autors, von Gelegenheitstexten oder gar von "Sekundärliteratur". Es wäre schön, wenn das der natürliche Anspruch von Sekundärliteratur wäre: beiläufige Prosa zu sein, also ins Primäre hinüberzuschillern, selber Anteil am Literarischen zu haben. In jedem dieser aus den unterschiedlichsten Anlässen entstandenen Texte Jan Wagners spürt man diese Absicht. Sie gehen über das bloße Beschreiben und Analysieren hinaus, sie erzeugen selbst jenes literarische Klima, in dem nichts eindeutig, aber alles vielsprechend ist.

Die Theorie kommt bei Jan Wagner immer erst hinterher. Das unterscheidet ihn von vielen zeitgenössischen Lyrikern, deren Operationen von vornherein Sprachkonzeption sind. In einem poetologischen Text geht der Autor zunächst den verblüffenden Parallelen zwischen Kriminalroman und Lyrik nach, der auffälligen Vorliebe vieler Dichter für Detektivgeschichten. Gottfried Benns berühmter Zyklus "Morgue" erinnert nicht nur zufällig an Edgar Allan Poes "Doppelmord in der Rue Morgue", das weist Wagner mit Fingerspitzengefühl nach. Beide literarischen Genres leben vom geschlossenen Raum: Im Zimmer, in dem sich die entscheidende Szene in Poes Erzählung abspielt, steckt der Schlüssel von innen, darin liegt das Geheimnis. Niemand kann erklären, was sich da ereignet hat. Dasselbe passiert für Wagner in einem Gedicht: Der Dichter schafft sich Schritt für Schritt einen "locked room", um "am Schluss den Schlüssel von innen stecken zu lassen und sich in Luft aufzulösen". Wagner fügt, vermutlich schmunzelnd, hinzu, dass der Ausdruck "hermetisches Gedicht" vom griechischen Götterboten Hermes abgeleitet wurde, der es vermochte, eine Glasröhre mittels eines magischen Siegels luftdicht zu verschließen.

Der Hinweis auf Poe zeigt, dass Wagner stark von der angloamerikanischen Literatur geprägt ist. Immer wieder lugen seine Gewährsmänner John Keats, Percy Shelley oder W. H. Auden durch die Zeilen, und in einem sinnlich wunderbar aufgeladenen Streifzug durch die Welt der Bibliotheken wird natürlich Jorge Luis Borges der gebührende Platz eingeräumt, aber man spürt, dass dem Autor Borges' Kollege Philip Larkin näher ist - dem zeit seines Lebens in der englischen Küsten- und Universitätsstadt Hull tätigen Bibliotheksleiter.

Das spannungsreiche Verhältnis zwischen Larkin und Ted Hughes wird in Wagners Assoziationszirkeln zu einem anspielungsreichen Abriss der jüngeren englischen Literaturgeschichte. Der König indes ist der Ire Seamus Heaney, und dieser liefert dem Autor die Gelegenheit, einen geplanten Ausflug zu den im extremen Westen Irlands gelegenen Achill-Islands zu einer Hymne auf das dort kultivierte Lebensgefühl auszubauen. Die Nacht im Pub des verregneten und scheinbar trostlosen Küstenstädtchens Westport, wie sie Wagner offenbar erlebt hat, wirkt wie der Beweis dafür, dass Kunst und Leben verschmelzen können und die Grundlage fürs Gedichteschreiben erlebt und nicht nur erdacht werden muss.

Am meisten zehrt Jan Wagner allerdings wohl von Bildern aus seiner Kindheit. Er verheimlicht nicht, dass sie vergleichsweise behütet und bildungsbürgerlich geprägt war - da tauchen frühe Spiele auf und ein Großvater, der sein Ohr immer ganz nah an das magische Auge des Radioempfängers hielt und der die unendlichen Möglichkeiten der Fantasie, wie sie Dylan Thomas' Hörstück "Unter dem Milchwald" bereithielt, mit dem Enkel teilte. Von der Buchhandlung, die Wagners Kindheit und Jugend prägte, sind so hingebungsvoll skizzierte Erinnerungsbilder übrig geblieben, dass man sofort davon überzeugt ist, dass alles richtig ist, was da steht. Was Wagner in einer funkelnden Vergangenheitsimprovisation mit dem Namen des Schriftstellers Hans Erich Nossack anstellt, ist ein Kabinettstückchen, das Fiktion und Realität virtuos vermengt. Die Dichtung, so definiert Jan Wagner wie nebenbei, ist eine "Magie zweiter Ordnung". Man kann es auch mit dem englischen Romantiker John Keats sagen: Es ist eine "negative capability", eine negative Befähigung. Diese beiläufige Prosa macht klar: Man muss wissen, was man tut.

© SZ vom 21.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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