Essay:Gespaltene Moral

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"Die Jungfrau mit den Schlangen" heißt dieses Werk des schwulen Künstlerpaares Pierre et Gilles von 2008. Modell stand die Sängerin Kylie Minogue. (Foto: Pierre et Gilles/Galerie Daniel Templon)

Irland ist für die Homo-Ehe, aber gegen Abtreibung. Andere Länder halten es genau umgekehrt. Was ist denn nun liberal, was illiberal, was progressiv? Und wie erklärt sich die Ungleichzeitigkeit?

Von Andreas Zielcke

Das erfolgreiche irische Referendum zur gleichgeschlechtlichen Ehe wirft ein Schlaglicht auf die seltsamen, verschlungenen Wege der moralischen Liberalisierung. Wie fügt es sich, dass dieselben Bürgermehrheiten für die Gleichberechtigung der Homosexuellen sind, aber strikt gegen Abtreibung? Oder umgekehrt: für großzügiges Zulassen des Schwangerschaftsabbruchs, aber energisch gegen die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare? Sind gleiche Rechte für Homosexuelle und die Rechte von Frauen auf Abtreibung nicht Zwillingsindikatoren desselben Liberalisierungsprozesses?

Offenbar nicht, auch wenn der Trend in einer Reihe westlicher Industriestaaten in diese Richtung zu gehen scheint. In der Tat erlauben viele Länder inzwischen den Abbruch der Schwangerschaft innerhalb einer gewissen Frist oder aus weit gefassten medizinischen und sozialen Gründen. Die rechtliche Gleichstellung von Homosexuellen aber bleibt auch in der westlichen Hemisphäre noch weit zurück, nur in Europa erkennt die Mehrheit der Länder heute zumindest die eingetragene Partnerschaft an. In den USA räumt erst eine Minderheit der Einzelstaaten Homosexuellen ähnliche Rechte ein.

Insbesondere unter den stark konfessionell grundierten Nationen sind die Unterschiede eklatant: Irlands Bürger haben sich für die rechtliche Garantie der gleichgeschlechtlichen Ehe entschieden, jegliche Abtreibung (bis auf den Fall der Lebensgefahr für die Schwangere) ist aber nach wie vor bei Strafe untersagt. In Polen, katholisch wie Irland, existiert kein Recht auf gleichgeschlechtliche Partnerschaft oder gar Ehe, und Abtreibung ist nur bei Lebensgefahr für die Schwangere oder nach einer Vergewaltigung erlaubt.

In Malta wiederum, noch strenger katholisch, können Homosexuelle immerhin ihre Partnerschaft eintragen lassen, Abtreibung aber ist selbst bei Lebensgefahr für die Schwangere verboten. In den romanisch-katholischen Ländern Spanien, Portugal und Frankreich hingegen ist die Homo-Ehe zugelassen, und auch für die Abtreibung gilt die liberalste Regel, die Fristenlösung. Italien ist zwar bei der Abtreibung ebenso liberal, gewährt den Homosexuellen jedoch keinerlei partnerschaftliche Gleichstellung. Damit gleicht das katholische Italien der muslimischen Türkei, die ebenfalls Homosexuellen die Gleichstellung verwehrt, die Abtreibung aber innerhalb einer Frist freistellt.

Geben Spanien, Frankreich und Portugal also das konsequente Liberalisierungsmodell vor (Deutschland hält mit seiner bisherigen Weigerung, die Homo-Ehe anzuerkennen, bekanntlich nicht mit), dem die anderen Länder mit ihren janusköpfigen Rechtslagen nicht genügen? Definieren sie den Fortschritt, dem alle anderen hinterherhinken?

Kaum einer, der diese Fragen noch mit einem schlichten Ja beantworten würde. Nicht nur, weil der Fortschrittsgedanke nach dem Zwischenhoch der Aufbruchsstimmung in den Nachkriegsjahrzehnten längst einer gehörigen Skepsis gegenüber den diversen Heils- und Rationalitätsversprechen gewichen ist. Vielmehr auch deshalb, weil schon die Vorstellung einer linearen, homogenen Entwicklung der Menschheit nicht mehr plausibel ist. Mag auch die Formel von der "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" oft zur rhetorischen Phrase verkommen, so ändert dies an ihrer Gültigkeit nichts. Eine einlinige Evolution von der "Tradition zur Moderne" hat es nie gegeben. Es ist kein Zufall, dass ein Jean Paul nach der epochalen Zäsur von 1789 und den aufgewirbelten revolutionären und antirevolutionären Wirrungen und Horizontverschiebungen feststellte, dass die "Zeit in Zeiten zerspringt".

Allerdings ist die Formel der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen äußerst vieldeutig. Was meint das "Ungleichzeitige"? In einer abwertenden Bedeutung meint es, dass historisch eigentlich überholte Mentalitäten und Bräuche neben den "zeitgemäßen" Institutionen und Optionen noch ihr Dasein fristen. So gesehen wäre das Ungleichzeitige ein gestriger Fremdkörper in einer vorwärtsorientierten Zeit.

Als Ernst Bloch Anfang der Dreißigerjahre die Formel prägte, benutzte er sie in diesem Sinn zur Diagnostik des aufkommenden Faschismus. In der faschistischen Bewegung mische sich eine regressive Blut-und-Boden-Romantik mit futuristischen, technischen und machtpolitischen Modernismen; letztlich führe diese Mixtur zu einer "Explosion des Ungleichzeitigen". Doch nur auf den ersten Blick besticht eine solche Analyse, bei näherem Hinsehen verfängt sie sich im Fallstrick der Unterstellung, dass der Faschismus den historisch angelegten Fortschritt verfehlt habe. Tatsächlich aber war die totalitäre Formierung von Staat und Gesellschaft kein gestriges Element aus dem Fundus der Vorgeschichte, sondern eine höchst moderne politische Gestaltungstechnik und -ideologie. Kein Anachronismus, sondern eine illiberale Moderne, allenfalls mit alten Kostümen, war und ist ihr Kern.

Natürlich ist die Lockerung der Sexualmoral ein bedeutender Befreiungsakt...

Ist darum schon beim Urteil über "Ungleichzeitigkeiten" in durchformierten Nationen Vorsicht geboten, so erst recht bei liberalen Gesellschaften mit ihrem wesentlich höheren Komplexitätsgrad. Hier taugt eher die Formel der "Gleichzeitigkeit des Ungleichartigen". Denn nichts charakterisiert liberale Gesellschaften besser als das - durchaus konfliktreiche - Nebeneinander verschiedener und auch konträrer Zivilisationszustände und Entwicklungsoptionen.

Vor allem aber charakterisiert liberale Gesellschaften das synchrone Dasein von Freiheit und Freiheitsschranken, zugespitzt gesagt von Liberalität und Illiberalität. Diese teils anarchische, teils geplante "Gleichzeitigkeit von Freiheit und Unfreiheit" (Niklas Luhmann) ist kein Defekt, sondern Existenzbedingung liberaler Ordnungen. Zur Illustration reicht der Hinweis auf die Notwendigkeit substanzieller Reglementierung des Finanzmarktes. Die historische Lektion über das Verhängnis radikaler Marktliberalisierung ist spätestens seit 2008 erteilt.

Im Bereich der Sexualität und Familienkonzepte aber hat das Nebeneinander von Liberalität und Illiberalität ohnehin seine ganz eigene Ausprägung. Natürlich spricht viel dafür, dass die Entmoralisierung und die rechtliche Entlastung des Sexuellen von religiösen und autoritären Vorgaben zu den bedeutenden Errungenschaften zählt. Zugleich ist es aber auch kein Wunder, dass sich die Liberalisierung der Homosexualität nach anderen Kriterien entwickelt als die des Abtreibungsrechts.

Da homosexuelle Praxis nicht in Rechte Dritter eingreift, muss sie historisch "nur" von dem Ballast restriktiver sexueller und familiärer Sittlichkeitsnormen befreit werden, ohne dass ein Interessenskonflikt zu lösen wäre. Bei der Abtreibung aber stehen sich zwei Rechtspositionen unversöhnlich gegenüber, auf der einen Seite das Recht der Schwangeren auf Selbstbestimmung und Freiheit von ernsten Risiken, die von dem Ungeborenen ausgehen, auf der anderen Seite das Lebensrecht des Ungeborenen. Auch dieses letztere Recht ist eine weltliche Norm, unabhängig davon, dass es Religionen und ihre Kleriker mit Verve auch als ihre Norm reklamieren.

Die Liberalisierung der Homosexualität ist ein Befreiungsakt ohne Opfer, die Liberalisierung der Abtreibung ist eine Parteinahme zulasten eines (ungeborenen) Dritten. Die eine neutralisiert die Sexualmoral, die andere neutralisiert das Lebensrecht des Fötus - deshalb die meist rigide Beschränkung der Abtreibungsfreiheit auf die ersten Wochen nach der Empfängnis. Im Grunde ist das Abtreibungsrecht gar kein Ausdruck von Liberalisierung, sondern des Entscheidungszwangs in einem persönlichen Notstand. Liberal dabei ist allerdings, wenn niemand mehr die schwangere Frau bei der Entscheidung bevormunden darf.

Aber die liberale Entfesselung der Biotechniken schafft gleichzeitig neue Probleme

Doch selbst der prinzipielle Unterschied zwischen den rechtlichen Situationen der Homosexuellen und der Schwangeren erklärt nicht allein die so auffällig verschiedenen politischen Dynamiken ihrer Liberalisierung. Das Thema Homosexualität lässt sich ebenso mit fundamentalen Ideologien aufladen wie die Abtreibung, doch bei der Abtreibung kommt hinzu, dass sie - da es zugleich um den Nachwuchs der Gesellschaft geht - handfeste materielle politische Interessen tangieren kann.

Insbesondere autoritäre Regimes sind oft skrupellos genug, das Abbruchrecht für diese Zwecke zu instrumentalisieren. Das erklärt, warum China mit seiner Ein-Kind-Politik extensive Abtreibungsfreiheiten, wenn nicht Abtreibungszwang durchsetzte, es erklärt aber auch, warum in den Ländern des ehemaligen Sowjetblocks die Abtreibungspraxis als zynisches Kalkül der Familien- und Bevölkerungspolitik eingesetzt wurde. In Polen war das bis zum Fall des Eisernen Vorhangs nicht anders, 1993 aber kam dort der katholische Schwenk, der zu dem seither gültigen Abtreibungsverbot führte. Umgekehrt wirkt in Deutschland heute die Abtreibungsfreiheit in der DDR nach, deren Fristenlösung, die in Westdeutschland sehr umstritten war, das vereinigte Land 1995 mit Abstrichen übernahm.

Dass man in Ostdeutschland auch nach Wegfall des politischen SED-Motivs - im Unterschied zu Polen - an der Abtreibungsfreiheit festhielt, belegt die kulturelle Dimension dieser Liberalisierung. Wie wenig aber insgesamt von der naiven Folgerung, "je liberaler, desto besser", zu halten ist, erweist sich, wenn man den Blick über das Recht zur Homosexualität und zur Abtreibung hinaus auf das ganze Feld der Sexual-, Familien- und Reproduktionsmoral erweitert.

Die Gleichstellung der nichtehelichen Kinder hat mit Liberalisierung nichts zu tun, das Scheidungsrecht und auch das Adoptionsrecht fallen eher, bei aller Liberalität, unter Fürsorge und Verantwortlichkeit. Und schließlich offenbaren die immer greifbareren Techniken der Leihmutterschaft, Embryonendiagnostik und erst recht der Reproduktionsmedizin, dass die in Aussicht gestellten Freiheitsgewinne mit neuen Problemen einhergehen: mit beträchtlichen Risiken genetischer Manipulation und inhumaner Menschenbilder.

© SZ vom 30.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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