Essay:Fragment über das Finden

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Der Schriftsteller Ulf Erdmann Ziegler erzählt, wie er im alten West-Berlin vor dreißig Jahren das fand, was er begehrte: Roland Barthes, die Literatur und die Liebe fürs Leben.

Von Ulf Erdmann Ziegler

Es gab die Rost- und die Silberlaube und es galt damals als nahezu unverzichtbar, "bi" zu sein. Linse ich in die dunkle Kammer meines Herzens, bin ich nicht einmal sicher, was ich mehr wollte (oder damals: "begehrte"), nämlich ihn kennenzulernen oder sie, also Roland Barthes oder die Frau fürs Leben. Das kam am Ende zusammen und bildete ein Parayyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyydigma, welches, wie ich genau dreißig Jahre später erkenne, unauflösbar ist.

Die sehr langen Gänge in die Tiefe des Gebäudes hatten die Architekten J, K und L genannt, was ich schon damals für den Grund hielt, dass Kommilitonen (ich war der letzte, der diesen Ausdruck benutzte) unsere Freie Universität für verwirrend hielten und viel zu groß. Ich fand es gut, dass sie nicht A, B und C hießen, denn ich war schon ein bisschen älter, hatte in einem brüllend heißen Sommer in Kreuzberg Getränke ausgefahren und wusste, nach fünf Gewerbehöfen kommt man auf der parallelen Straße wieder raus.

Seine Studium-punctum-These hat gleich zwei Generationen von Museumsleuten geblendet

Einmal hatte ich acht Barthianer in meiner Neuköllner Höhle versammelt, auch du schon dabei, alle mit der ernsthaften Absicht, ein Stück Literatur zu finden, das wir "strukturalistisch" zerlegen wollten. "Werther", "Der Prozess", "Der Liebhaber"? Das einzige Buch, das wirklich alle gelesen hatten, war ziemlich neu und hieß "Mexikanische Novelle". Schreiben versus Recherchieren, Europa vs. USA, Wüste vs. Labyrinth, Schuld vs. Schuldzusammenhang, das wäre gut gelaufen - wir kamen nur vor lauter Reden nicht dazu anzufangen.

Merkwürdig, dass wir auf Berlin nicht gekommen sind. Sagen wir: Die Bundesrepublik und die DDR als zwei Seiten eines Zeichens. Der Westen als Signifikant, der Osten als seine Bedeutung. Das wäre die erste Ebene des Zeichens gewesen. Auf der zweiten Ebene bilden beide wiederum den Signifikanten, und das "Bedeutete" dort wäre West-Berlin: ein Mythos! Na also.

Ich hätte es wissen müssen: "Er hatte wenig Gespür für das Tragische. Er fand immer den Vorteil eines Nachteils. Sein Werk hat keine Visionen des Jüngsten Gerichts, des Untergangs der Zivilisation, der Unausweichlichkeit der Barbarei zu bieten. Es ist nicht einmal elegisch." Das hatte ich bei Susan Sontag gelesen, bevor ich Roland Barthes las. So war ich überhaupt auf ihn gekommen. Jetzt fällt es mir ein, was ich zu ihr hätte sagen sollen, als wir ein einziges Mal auf einer gemeinsamen Party waren, natürlich in West-Berlin. "Mrs. Sontag, durch Ihren brillanten Nachruf auf Barthes habe ich meine Frau kennengelernt. Dort drüben, die mit den kurzen Haaren. Sie arbeitet gerade über Genet."

Diese Partys: üppiges Catering und trockener Weißwein im sogenannten Berliner Zimmer. Einmal, ich soeben vor der Tür der Gastgeber, vor mir ein Duo älterer Damen aus Hamburg auf Adorationsbesuch. Mommsenstraße - als gäb's keine weißen Gründerzeithäuser unter der Hamburger Hochbahn. Und jetzt deutet eine von beiden aufs Klingelschild und ruft: "Guck mal, hier wohnt der Graf Sartorius!"

Wie ich also Barthes kannte, bevor ich ihn gelesen hatte, ging es dann mit den Objekten seines Interesses weiter: das Sprachmeer bei Saussure, obsessives Ordnen bei de Sade, die leere Mitte Japans; all das kannte ich zuerst von Barthes und erst später aus eigener Anschauung, die ich inzwischen gelernt hatte, nicht mit der Wirklichkeit zu verwechseln. Das ist ja auch das Schwierigste an der Liebe, nicht wahr, sie nicht zu verwechseln.

So wie ihm das spät mit der Fotografie passieren sollte. Er glaubte, herausgefunden zu haben, wie man in einer Fotografie etwas bisher Übersehenes ausmacht. Er dachte sich das aber nicht so, wie man in einem Text eine Stelle "plötzlich" neu liest, sondern wie eine Flaschenpost ohne Absender. Das hat gleich zwei Generationen von Museumsleuten geblendet, die wohl nach ihrem mühevollem Studium der vertrackten Malerei allzu gern glauben wollten, in der Fotografie regiere der Zufall: Man muss nur sein "punctum" entdecken, das Motiv an sich reißen. Tatsächlich kommt es immer andersherum: Die Sehnsucht nach bestimmten Details ist reine Libido, und jedermanns Lieblingsbilder werden immer jene sein, die sie enthalten, Fotografie oder nicht. Die Studium-punctum-These war zirkulär und führte zu nichts.

Außer zu der Frage, inwiefern es intellektuell koscher sei, in der theoretischen Konstruktion Biographeme mit auszustellen. Im Fotografiebuch ist es der vorangegangene Tod der Mutter. Insofern stellt Barthes so ziemlich das Gegenteil von Adorno dar, der - auch ein übersensibler Empiriker - höchst persönlich gewonnene Einsichten zu unhintergehbaren Einsichten destillierte. Barthes aber war wie einer, der den Stein hochhebt, und dies sollte man sich merken: Was die Käferchen taten, bevor sie davonliefen. Er wollte, dass man daran teilhat, wie Fabre oder Freud, die sich auch zusehen ließen bei der Entstehung des Gedankens.

Was wohl aus uns geworden wäre (dir und mir), wenn wir uns in einem Lacanseminar kennengelernt hätten: kryptisch krächzende Krähen? Oder durch Derrida: zuckende Schlangen, bis zur Unkenntlichkeit ineinander verknotet? Wir haben uns nicht verirrt in der Dahlemer Rostlaube, aber verstiegen gewiss. Barthes' Vokabular schien damals untrennbar vom imposanten poststrukturalen Lingo. Überlebt aber hat seine Methode. Er hätte das wahrscheinlich ausgeschmückt: "die Methode, deren Gestik, ihr Impetus".

Mein Lieblingsplatz zwischen den Seminaren war genau auf der Schwelle von der Rost- zur Silberlaube, ein Platz, der mit "geliehenen" Seminartischen traditionell den politischen Organisationen gehörte. Kaum geduldet, verkaufte ich derweil MerveBändchen. Mädchen, die es richtig mit Büchern hatten, blieben stehen, blätterten, und haben mich gar nicht bemerkt. Sogar dir ist das anfangs passiert. Ich glaube noch heute, dass unser Professor Jürgen Zeck damals ahnte, was mit uns geschah, bevor wir es wussten. Wir mussten erst einmal unseren Platz finden in dieser von Ruhrkohle beheizten Stadt, in der es vom Osten her nach Braunkohle roch. Obskure Lesezirkel. Der Schaubühnenstil. "Geniale Dilletanten". Die Rutschkys, dogmatisch undogmatisch. David Bowie in der Stadt, aber auch Heiner Müller, Michel Foucault. Baudrillard gibt mir die Hand, im Verlag, dem Buchverkäufer. Einmal hat uns ein Australier eingeladen, der servierte ausschließlich grüne Dinge zu essen. Irre: Jetzt ist West-Berlin auf einmal angesagt.

Zurück zum Bestiarium: Wer wären wir? Ich sehe uns als Eichhörnchen. Suchen ja, aber nicht zu sehr. Man wird sich ja noch mal umsehen dürfen! Unsere Vorräte bringen wir in unsere Höhle, wo sie syntagmatisch und paradigmatisch geordnet werden. Das große intellektuelle Fressen, es hört nie auf. Unsere Höhle nenne ich J 2928, in Anspielung auf den Seminarraum, in dem ich gefunden habe, was ich "begehrte": dich; und ihn.

Der Autor, geboren 1959 in Neumünster, lebt als Schriftsteller und Journalist in Frankfurt am Main und verbringt gerade ein Jahr in Berlin. Zuletzt erschien 2014 bei Suhrkamp sein Roman "Und jetzt du, Orlando!"

© SZ vom 12.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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