Essay:Blitz aus dem Virtuellen

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Auf der Rodung entstand die Stadt und mit ihr die Kultur der Menschen: Rainald Rebs Fotowischbild „Zur Lichtung“. (Foto: Rainald Reb)

Als die Menschheit aus den Wäldern auf die Lichtungen trat und dort ihre Städte errichtete, begann die Zivilisation. Doch wie verändert der digitale Raum die Welt?

Gastbeitrag von Christoph Quarch

Die Geschichte der Menschheit kann man auf vielerlei Art erzählen. Eine ungewöhnlich kurze Fassung gibt es von Giambattista Vico. In seiner "Scienza Nuova" von 1744 lässt er seine Leser wissen: "Zunächst gab es die Wälder, dann die Hütten, darauf die Dörfer, später die Städte und schließlich die Akademien." Ob Vico damit richtig lag, darf bezweifelt werden. Vor allem das Ende seiner Geschichte erscheint aus heutiger Sicht revisionsbedürftig, strebt die Menschheit zu Beginn des 21. Jahrhunderts doch nicht in Akademien, sondern in den virtuellen Raum der digitalen Welt. Und an dieser Schwelle lohnt es innezuhalten, sich umzudrehen und zu fragen: Was wird aus den Wäldern, Hütten, Dörfern, Städten, wenn die Menschheit diesen neuen Raum betritt?

Wie die Antwort darauf ausfällt, ahnt man, wenn man sich auf Vicos Spur begibt und sie nicht als Beitrag zur historischen Wissenschaft liest, sondern in ihrer symbolischen Bildsprache auf sich wirken lässt. Dann verrät sie nicht nur etwas über das Kulturwesen Mensch, sondern öffnet zugleich eine überraschende Perspektive auf das jüngste Kapitel seiner Geschichte: Mit dem Eintritt in den digitalen Raum verändert sich die analoge Welt zu dem, was sie am Anfang war - sie wird zum Wald.

Vico erzählt, ursprünglich sei die Erde von dichten Wäldern überwuchert gewesen. Darin hausten rohe, ungeschlachte Kerle, Wesen ohne Anstand, Sitte oder Religion. Vico nennt sie "Giganten" und betont, dass sie asoziale Einzelgänger waren. Sie kannten nichts anderes als Dickicht, Baumstämme und Blätterdach. Wenn sie durch die Wälder schweiften, glichen sie dem Fisch im Wasser. Sie kannten den Wald vor lauter Bäumen nicht. Bis zu dem Tag, an dem ein Blitz am Himmel zuckte. Damit änderte sich alles. Mit dem Blitzschlag kam die Transzendenz.

In den Wäldern lebten nicht nur Feen, Elfen und Zwerge, sondern auch Hexen und wilde Männer

Die Giganten blickten auf und begriffen, dass es ein Jenseits des Waldes geben müsse, das sie nun ergründen wollten. Dafür aber mussten sie sich erst ein eigenes Jenseits schaffen: einen offenen Bereich im Walde, eine Lichtung, die den Blick zum Himmel freigab. Also griffen sie zur Axt, rodeten den Wald und errichteten auf der Lichtung ihre ersten Hütten. So begann die Zivilisation. Die Giganten wurden nicht nur sesshaft und sozial; nein, sie verehrten die Lichter des Himmels als Götter und verwandten allen Scharfsinn darauf, himmlische Zeichen zu erspähen, um sich so das Leben zu erleichtern und berechenbar zu machen. Eine neue Welt begann: Aus Giganten wurden Menschen, aus dem heimatlichen Wald wurde die unheimliche Wildnis, denn als Lebensraum der Menschen blieb allein die Lichtung.

Wenn man Vico Glauben schenkt, klafft seither ein Riss durch die Welt. Hier der freie, lichte, offene Bereich, dort die dunkle, unheimliche Waldesnacht. Hier der Ort der Sicherheit, Gewissheit, Wissenschaft und Zivilisation, dort das ungestalte, rohe Leben, wo nur Wild und Wilde hausen. Dieser Zwiespalt ist ein Kennzeichen der Kultur. Seit den Tagen der Giganten hält sie sich im Spannungsfeld von Wildnis und Zivilisation. Und es ist aufregend zu sehen, wie dieses Spannungsfeld in unterschiedlichen Epochen unterschiedlich gedeutet und gestaltet wurde.

Dabei fällt auf, dass das Verhältnis von Lichtung zu Wald seit der Zeit der Römer gewaltförmig ist. Das ist nicht unerheblich, da Rom im europäischen Verständnis der Archetyp der Stadt ist: die Urbs, die nicht nur dem Namen nach als Ursprung aller Urbanität gilt. Roms Gründer war Romulus, seine Mutter hieß Rhea Silvia (der Waldfluss) und stammte aus dem Geschlecht der Silvier (der Waldbewohner). Der Kriegsgott Mars hatte sie vergewaltigt. Romulus wurde mit seinem Bruder Remus ausgesetzt, doch eine Wölfin zog die Jungen im Walde auf. Als Romulus herangewachsen war, rodete er eine Lichtung und gründete Rom, die Stadt.

Das ist nicht bedeutungslos. Denn von Rom aus wurde Europa urbanisiert und zivilisiert. Was dem Wald Gewalt antat. Ganze Landstriche wurden niedergebrannt, als das Imperium sich ausdehnte. Das hatte Methode. Denn den Kelten und Germanen war der Wald von jeher Heiligtum und Tempel. Davon kündet heute noch die nordische Sagen- und Mythenwelt. Auch der mittelalterliche Roman ist ebenso wie die Märchen voll von Geschichten, in denen der Wald als magischer Ort erscheint, an dem der Eindringling nicht allein wunderlichen Wesen wie Feen, Elfen, Trollen, Kobolden und Zwergen begegnet, sondern auch gefährlichen Gestalten wie Hexen und den gefürchteten "wilden Männern".

Die Aufklärung bestimmte die Lichtung zum Programm, nur die Romantiker verklärten den Wald

Vor allem galt der Wald von jeher als ein Ort der Transformation, Initiation und Verwandlung. Kein Held aus Artus' Tafelrunde, der nicht durch die Aventüren im Walde zum Ritter wurde. Und es ist metapherngeschichtlich kein Zufall, dass Shakespeares Webermeister Zettel im mittsommernächtlichen Walde zum Esel mutiert. Ja, schon die dionysische Literatur der Antike ist voll von Transformationsgeschichten, die sich im Wald zutragen.

Dahinter steckt ein altes Menschheitswissen: Der Wald ist nackte, ungehobelte Lebendigkeit. Er ist ein Raum der unberechenbaren Potenzialität, die Brutstätte des Neuen und des Wandels. Wer sich in den wilden Wald begibt, muss damit rechnen, beim Verlassen nicht mehr der zu sein, der er war, als er in ihn eintrat. Wohin die Mutation erfolgt, ist dabei völlig ungewiss - doch ist sie denen, die mit ihr zu tun bekommen, ein heiliges Geschehen: eines, das bei aller Unheimlichkeit den Menschen doch seiner Heimat näher bringt: der unheimlichen Heimat des immer neuen Lebens, die man auf der Lichtung immer mehr vergessen hat.

Das verdankt sich der Epoche, die die Lichtung zum Programm erhoben hat: als "Enlightment" oder Aufklärung. Denn mit dem Ausgang des Menschen aus dem Dickicht seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit hinaus ins lichte Freie der Vernunft setzte eine beispiellose Expansion der Lichtung ein. Von Descartes zum "maître et possesseur de la nature" geadelt, machte man sich in Europa mit römischem Furor an die Arbeit der systematischen Naturausbeutung. Erst wurde der Wald zum Forst im Sinne eines Jagdreviers für Adlige, dann zum Holz im Sinne einer Industrieressource. Nur ein kleines Völkchen in Deutschland leistete dem unerbittlich Widerstand: die Romantiker, die die schrumpfenden Wälder zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Sehnsuchtsorte einer Wiederverzauberung der Welt entdeckten und die Waldromantik ins kollektive Unterbewusste der Deutschen prägten - die sich noch heute am "Waldbaden" ergötzen.

Der Wald wurde so zur Ware: der Forstindustrie einerseits, der Freizeitindustrie andererseits. Als Hort des nackten, wilden, echten Lebens aber ist er in Vergessenheit geraten. Denn der Blick aufs ursprüngliche Leben ist inzwischen ganz verstellt, durch das "Gestell", das auf der Lichtung groß und größer wurde, so groß, dass es die Welt der Menschen entstellt hat.

Der Begriff Gestell stammt von Martin Heidegger. Er sah in ihm die Verdichtung des geistigen Paradigmas, das in seinem Verständnis die Lichtung der modernen Welt restlos beherrscht: der Technik. Auch Lichtung ist ein Motiv des Heideggerschen Denkens. Mit ihm bezeichnete er die Weise, wie die Welt sich einem Menschentum erschließt. Die Weltbevölkerung von heute, hat - meinte er - die Welt nach Maßgabe der Technik vollständig erschlossen. Die Menschen haben sie mithilfe der Wissenschaft gelichtet, die Wälder gerodet und eine urbane Weltzivilisation errichtet, die der Logik des Gestells folgt: Wahr ist nur, was festgestellt wird, wertvoll nur, was hergestellt wird, wünschenswert nur, was bestellt werden kann.

Das große Gestell der modernen Lichtung ist die technisch-wissenschaftlich-ökonomische Zivilisation, die global expandiert und täglich neue Waldflächen vernichtet. Die Welt ist durch sie wirklich licht geworden. Wissenschaft und Technik haben den Gigantentraum erfüllt und das Leben bequemer und berechenbarer gemacht. Doch der Preis, den die Menschen dafür entrichten, ist gewaltig: der Wald, die Wildnis, die Lebendigkeit.

Im Licht der digitalen Welt wird die Stadt zum Dschungel, zum Freiraum für Hexen und Wilde

Vico meinte, das Ende der Geschichte seien "die Akademien". Da hat er sich getäuscht. Der letzte Schritt sieht völlig anders aus. Denn er öffnet eine neue Sphäre der Transzendenz, ist gestiftet durch einen erneuten Blitzstrahl: den Blitz aus dem digitalen, virtuellen Raum. Denn wie einst die Giganten eine Lichtung in den Wald brannten, um die Welt beherrschbar zu machen, so schlagen die Menschen heute die digitale Lichtung in den analogen Raum der Städte, um nun dort zu siedeln, wo das Leben noch viel lichter, leichter, sicherer und frei von allem waldig-wilden Ballast ist. Eine neue Lichtung hat sich schleichend in den alten Raum der Stadt gebrannt, eine Lichtung, deren Licht so grell ist, dass sich niemand ihr entziehen kann.

Was damit einhergeht, lässt sich nunmehr ahnen. Der urbane Raum der analogen Stadt wird bald den Wald beerben. Er wird mehr und mehr zum Großstadtdschungel, Sehnsuchtsort für Abenteurer, neue "wilde Männer", die mit ihren dichten Bärten durch die Brachen welker Straßen streichen. Oder neuer Hexen und Sirenen, die sich den geordneten, sterilen und gut ausgeleuchteten Datenkorridoren der digitalen Welt entziehen. Wer sich nicht von den Glasfassaden der Renommierbauten blenden lässt, erkennt unschwer, dass der gestalterische und ästhetische Wille sich längst der analogen Stadt ab- und dem digitalen Raum zugewandt hat. Rom geht erst in der Gegenwart unter. Eine neue Lichtung hat es überstrahlt.

Was wird aus dem alten Wald? Wird er ganz aus dieser Welt verschwinden? Ist er so sehr vom Gestell der digitalen Welt verstellt, dass die Menschen ihn ohne Widerstand verschwinden lassen und sich damit abfinden, der digitalen Lichtung künftig nur noch in den Großstadtdschungel entweichen zu können? Das wäre nicht gut. Nicht nur wegen des Klimawandels, sondern wegen des Verlustes der Lebendigkeit. Denn der Wald war immer jener Ort, der Menschen zu verwandeln vermochte. Er war ein Ort der Initiation, des Wandels und der Möglichkeit. Wenn die Menschen in die Lichtung der digitalen Welt umziehen, drohen sie Schaden zu nehmen. Denn in der digitalen Welt gibt es keinen Schatten mehr. Er ist nicht die Lichtung im Walde, sondern die Wüste in einer technisierten und urbanisierten Welt. Zu viel Licht ist tödlich.

Ein Zurück in den Wald aber wird es nicht geben. Oder doch? Das Gebot der Stunde hat schon vor fast hundert Jahren ein Romancier formuliert. D. H. Lawrence schrieb in "Lady Chatterley's Lover": "Vitally, the human race is dying. It is like a great uprooted tree, with its roots in the air. We must plant ourselves again in the universe." "Die Menschheit stirbt. Sie ist wie ein entwurzelter Baum, dessen Wurzeln in der Luft hängen. Wir müssen uns wieder im Universum einrichten."

Christoph Quarch ist Philosoph . Zuletzt erschien von ihm "Platon und die Folgen" bei J. B. Metzler.

© SZ vom 05.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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