Erziehungsroman:Und die Mutter, die hat Zähne

Lesezeit: 3 min

Michela Murgias "Chirú" entstammt einem aus der Mode gekommenem Genre: der Schüler-Lehrer-Geschichte.

Von Maike Albath

Schwärmerische Schüler-Lehrer-Geschichten sind ein bisschen aus der Mode gekommen, der Typus des idealistischen Erziehers wurde durch den lösungsorientierten Coach ersetzt, selbst zwischen Eltern und Kindern gilt Gleichberechtigung. Die sardische Schriftstellerin Michela Murgia, 1972 in Cabras geboren, kümmert das nicht. In allen ihren Büchern interessiert sie sich für Rituale des Übergangs und der Bindungen an Personen, die diese Prozesse begleiten.

In ihrem neuen Roman "Chirú" sucht sich ein knapp volljähriger Geigenschüler aus dem Konservatorium eine zwanzig Jahre ältere Lehrerin aus, die Schauspielerin und Ich-Erzählerin Eleonora, und zwar einfach so, weil sie ihm imponiert. Sie wisse viele Dinge, die er noch lernen müsse. Es ist die Chuzpe, die Eleonara an diesem Jungen betört und sie dazu bringt, ihn zu ihrem Schüler zu machen, obwohl sie diese Funktion eigentlich nie mehr übernehmen wollte. Aber der Titelheld Chirú trifft etwas in ihr. Er habe denselben "Geruch von Fäulnis" an sich, den sie auch von sich kenne, heißt es gleich auf der ersten Seite.

Treten die beiden in eine Art Orden ein, legen sie ein Gelübde ab? Tatsächlich beschwört Michela Murgia das emphatische Potenzial der klassischen Schüler-Lehrer-Beziehung, die sich aber in ihrem Roman vollkommen losgelöst von einer Ausbildung und ihrem institutionellen Rahmen entwickelt. Auch eine geheimnisvolle erotische Komponente schwingt mit, die aber ebenso verschwommen bleibt wie das ganze Unterfangen. Die elegante, sinnliche, kinderlose Eleonora ist so etwas wie eine Zen-Meisterin, eine Mischung aus fürsorglicher Mutter, koketter älterer Freundin und knallharter Mentorin, die das Potenzial des Jungen erkennt und das Beste aus ihrem Schützling hervorlocken will.

Eleonora entpuppt sich mehr und mehr als wilde Interpretin jeder verborgenen Seelenfalte

Nach dem Muster eines klassischen Bildungsromans erteilt sie ihm 18 Lektionen. Sie führt den jungen Mann in ihre Kreise ein, besucht sein Zwischenprüfungskonzert, nimmt ihn mit auf Partys in Rom, erklärt ihm die Finessen angemessener Kleidung und zeigt ihm, wie er sich den Habitus zulegen kann, den er braucht, um bei den richtigen Leuten zu landen. Außerdem konfrontiert sie ihn immer wieder mit seinen Widersprüchen und allem, was er an sich selbst nicht sehen will.

Ihr Schüler erweist sich als gelehrig und sagt der glamourösen Schauspielerin schon bald auf den Kopf zu, was wiederum sie im Innersten umtreibt: Sie sei unglücklich, dies aber mit Klasse. Chirú kann also auch austeilen, und seine Lehrerin ist entzückt von seiner aggressiven Unbeholfenheit. Eleonora entpuppt sich mehr und mehr als militante Küchentisch-Psychoanalytikerin, Hobby-Deuterin und wilde Interpretin jeder Seelenfalte. Jede Geste wird mit Bedeutung aufgeladen, die Sache verkehrt sich beinahe zu einer mystischen Erfahrung.

Es ist einigermaßen bizarr, wie sich Eleonora mit ihrem Ex-Freund Fabrizio, der ebenfalls so etwas wie ein Lehrer für sie war, regelmäßig über den neuen Schüler austauscht, ihn in jeden seiner Fortschritte einweiht und um Rat fragt. Fabrizio ist also so etwas wie der Supervisor. Ohne die Begriffe zu nennen, werden Elemente einer Psychoanalyse wie Übertragung und Gegenübertragung durchexerziert. Was aber auf der Couch zur Behandlung gehört, mündet hier immer wieder in allzu vorhersehbare Wendungen.

Und je mehr Eleonora sich in ihre Rolle als Erzieherin hineinsteigert, desto pathetischer überhöht sie diese Rolle: "Seine Verblüffung war für mich wie ein Rauschmittel, und sie hervorzurufen erlaubte mir, aus dem Fluss seiner lebendigen, klaren Intelligenz zu schöpfen, die noch im Werden begriffen war und voller Energie. ... Chirú war von einer Reinheit, die mir anvertraut worden war, damit ich sie verletzte."

Kaum kommt die sardische Kindheit der Erzählerin ins Spiel, gewinnt der Roman an Dichte

Ihre Turiner Freundin fragt Eleonora eines Abends, wie viel es sie koste, mit ihren Schützlingen - es gab vor Chirú bereits drei andere - nicht ins Bett zu gehen. Gar nicht viel, erwidert Eleonora, sie verzichte darauf, werde aber mit denselben Gefühlen belohnt. Alles kreise ohnehin um das Begehren, und es sei auch keine Lösung. dem mit Mütterlichkeit zu begegnen. "Der Wille zu einer absoluten Mutterschaft hätte ihn zu meinem ewigen Sohn gemacht, ihn mit den versteckten Zähnen eines rationalen Uterus zerfleischt, der keine Freiheit außerhalb seiner selbst zulässt."

Spätestens hier zeigt sich, wie nahe Murgia am Psycho-Kitsch-Abgrund wandelt. Die von einer Fülle therapeutischer Floskeln und pseudopoetischer Vergleiche durchsetzte Sprache des Romans macht es nicht besser. Dass man ihn dennoch mit einer gewissen Faszination liest, liegt weniger an den Selbstentblößungen der Heldin als an den Rückblenden in ihre sardische Kindheit und Jugend mit einem cholerischen Vater und einer manipulativen Mutter. Hier begibt sich Michela Murgia, die in ihrem Roman "Accabadora" (2010) tief eingedrungen war in die Anthropologie ihrer Insel, auf vertrautes Terrain, und hier bekommen die Geschichtensplitter eine gewisse Dringlichkeit. Aber sonst fällt ihr in "Chirú" zu wenig ein, und Eleonoras sich anbahnende Liebschaft wirkt arg konstruiert - ein sanftmütiger schwedischer Operndirektor ist der Glückliche, der die brutale Virilität des sardischen Vaters konterkariert. Am Ende hat der Schüler das Nachsehen, doch ein ödipaler Mini-Triumph ist ihm immerhin vergönnt.

In einem berühmten Film von Pier Paolo Pasolini, "Große Vögel, kleine Vögel", kommt ein Schild vor, auf dem steht: "Lehrer sind dazu da, dass man sie mit scharfer Sauce verzehrt." Das war 1966, am Vorabend der Revolte gegen die Elterngeneration. Eine weibliche Spielart von Autorität auszuleuchten könnte ein interessantes Romansujet sein. Aber Michela Murgias Variante stachelt eher kannibalistische Fantasien an.

Michela Murgia: Chirú. Roman. Aus dem Italienischen von Julika Brandestini. Klaus Wagenbach Verlag, Berlin 2017. 208 S., 20 Euro. E-Book 17,99 Euro.

© SZ vom 22.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: