Was sich gerade am Beispiel der syrischen Literatur beobachten lässt, könnte man aufregend nennen, wäre das nicht zynisch angesichts des Krieges, der inzwischen ins achte Jahr geht. Er hat ein Land auf Generationen zerstört, das einige westliche Kenner zu den schönsten des Nahen Ostens zählten. Trotzdem oder gerade deshalb wird weiter geschrieben, entsteht nach wie vor syrische Literatur.
Häufig genug sind Übersetzerinnen und Übersetzer das Nadelöhr, durch das fremdsprachige Literatur vermittelt wird. Ihnen ist es zu verdanken, wenn Verlage aufmerksam werden auf neue Stimmen einer anderen Sprache, die Agenturen und Lektoren übersehen haben. Das ist im Falle der junge syrischen Literatur der Gegenwart nicht anders. Die Leistung von Arabisch-Übersetzerinnen und -Übersetzern wie Larissa Bender, Leila Chammaa, Sandra Hetzl, Günther Orth und Rafael Sanchez, um nur einige zu nennen, ist kaum zu überschätzen. Einige von ihnen engagieren sich selbst in Syrien oder bemühen sich, im Westen über die syrische Kultur und die gegenwärtige Situation in dem Land aufzuklären. Man müsste ihnen für die Arbeit der vergangenen Jahre kollektiv das Bundesverdienstkreuz verleihen.
Die Lage ist derzeit auch deswegen eine besondere, weil junge, in den Achtzigerjahren geborene Autorinnen und Autoren, die teilweise erst durch den Krieg und das Exil zum Schreiben gekommen sind, heute in Deutschland leben, die deutsche Sprache lernen und selbst teilnehmen am Kunst- und Kulturbetrieb. Und die deutschen Verlage zeigen großes Interesse an ihren Erfahrungen und ihren Geschichten. Der Kulturbetrieb möchte wissen, was sie zu erzählen haben. Für serbische, bosnische oder albanische Schriftsteller, die überwiegend in den Neunzigerjahren nach Deutschland gekommen sind, war das noch deutlich anders. Viele von ihnen haben bis heute nicht einmal einen Verlag gefunden. Heute sind die Leser, Veranstalter und Verlage, sowie der Journalismus für die Arbeit eingewanderter Autorinnen und Autoren ganz anders sensibilisiert als noch vor zehn Jahren. Die syrischen Autoren treffen heute auf Leser, die ein großes Interesse an ihren Stimmen und Geschichten haben. Dadurch ergeben sich für sie Chancen, veröffentlicht zu werden.
Sie glaubt heute nicht mehr, dass Literatur Einfluss auf die Gesellschaft nimmt
Neben den ersten, wichtigen Anthologien ("Innenansichten aus Syrien", hrsg. von Larissa Bender, editionfaust 2014, und: "Weg sein - Hier sein", Secession 2016), hat jetzt zum Beispiel der 1989 geborene Autor Nather Henafe Alali, der seit 2014 in Deutschland lebt, eine Ausgabe der Zeitschrift Neue Rundschau herausgegeben, in der er syrische und deutsche Stimmen zu der Frage versammelt "Die syrische Revolution - eine Revolution der Medien?" (S. Fischer 2018). Im Wunderhorn Verlag haben Mahmoud Hassanein und Hans Thill unter dem Titel "Deine Angst - Dein Paradies" syrische und deutsche Dichterinnen und Dichter zusammengerufen und präsentieren "Poesie der Nachbarn". In der Prosa erreichte der 1987 geborene Hamed Abboud, der seit 2014 in Wien lebt, mit seinem von Larissa Bender übersetzten Band "Der Tod backt einen Geburtstagskuchen" (pudelundpinscher 2017) eine erstaunliche überregionale Beachtung: Er wurde aus dem Stand für den Internationalen Literaturpreis in Berlin nominiert.
An Abbouds groteske und schnelltaktige Erzählweise fühlt man sich bei der Lektüre von Rasha Abbas erinnert, die schon vor zwei Jahren mit ihrem ersten Buch in deutscher Übersetzung, "Die Erfindung der deutschen Grammatik" Aufsehen erregte und nun wie komplementär dazu wirkende Erzählungen veröffentlicht hat: Die 1984 in Latakia geborene Autorin hatte in Syrien Journalismus studiert und angefangen, sich einen Namen als Schriftstellerin zu machen. Der Verlag mikrotext hat nun ihren Erzählungsband "Eine Zusammenfassung von allem, was war" in der Übersetzung von Sandra Hetzl veröffentlicht.
Wie Abboud schlägt auch sie ästhetisch einen neuen Weg ein: Ihre Generation sei noch zu einer Literatur erzogen worden, die ernst sein müsse, einen politischen Auftrag habe, hat Rasha Abbas einmal gesagt. Ästhetisch sei sie dem poetischen Anspruch der arabischen Hochsprache verpflichtet. Heute glaube sie nicht mehr, dass Literatur Einfluss auf die Gesellschaft nehmen könne. Vielmehr werde die Literatur beeinflusst, in ihrem Fall offensichtlich von der Kehrseite des Exils: einer Loslösung von Traditionen und einer notwendigen Neuverortung.
"Was uns zerbricht, das rettet uns", könnte das dazu passende bittere Credo aus den neuen Erzählungen von Rasha Abbas sein. Sie rückt stofflich wieder etwas von ihren Bemerkungen im Zusammenhang mit "Die Erfindung der deutschen Grammatik" ab, bleibt aber ästhetisch dem ersten Band treu, der auf Sandra Hetzls Anregung aus den Facebook-Posts der Autorin hervorgegangen war und vom Leben im Exil erzählte: komisch, bitter, dreist direkt. "Eine Zusammenfassung von allem, was war" wendet sich nun dem Herkommen zu, den Erfahrungen einer unterdrückten Gesellschaft und des auf deren Freiheitswunsch folgenden Krieges.
Bemerkenswert ist, wie Abbas die Vielfältigkeit der verschiedenen Fluchtgründe auffächert und dabei weibliche und männliche Erfahrungen gleichermaßen darstellt. Es ist nicht einfach "der" Krieg, unter dem ihre Figuren leiden. Die Erzählerin im ersten Text "Sie können mich Samt nennen", die immer wieder ihren exemplarischen Status betont ("Mein Name ist unwichtig"), macht beispielsweise gleich zu Beginn klar, dass ihre Wurzellosigkeit grundlegender und auch älter ist als die der Vertriebenen. "Aber jene Erde war nicht meine Erde. Sie spuckte mich aus", sagt sie so gar nicht samtig, und erinnert damit an ein anderes Lebenskonzept als das der Nation und Kultur. Man nannte es mal Freiheit und dachte dabei an universale Grundrechte.
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Rasha Abbas schreibt in kurzen Sätzen, manchmal mit alttestamentarischem Pathos, nur um dann ihre ästhetisiert davonschwebenden Leser schnell wieder auf den Boden zurückzubringen: "Ich trage die Einsamkeit auf meinen Schultern, zur Erlösung der anderen, durch die betäubten Städte, während blaue Haartönung von meiner Frisur tropft." Schöner wäre gewesen, einfach "während blaue Farbe aus meinen Haaren tropft" zu übersetzen, doch die krasse Verortung in banaler Alltagskultur ist wohl der gewünschte Effekt, und Sandra Hetzl versteht es, die Klaviatur der Tonhöhen so rasant und punkig zu bedienen, wie Rasha Abbas es offensichtlich im Arabischen tut.
Ihre kurzen Erzählungen berichten von konkreten Details aus dem Kriegsalltag, etwa von der urban legend, dass die Pässe von Demonstranten durch die Sicherheitsbehörden mit Knicken gekennzeichnet werden, damit sie an jedem Checkpoint auffallen. Oder der vermutlich kaum erfundenen Szene eines Regisseurs, der die Saladin-Versessenheit des Assad-Clans inszeniert - man kennt diese Verwicklungen der Kunst aus anderen Diktaturen.
In solchen Texten hält die Autorin das Surreale noch im Zaum. In anderen lässt sie ihm freien Lauf und entwirft Gleichnisse und Traumbilder für ein Leben unter Luftangriffen, für die Erfahrung einer Generation, die sich nicht mehr an die Schönheit erinnern kann, für quälende Schuldgefühle, die Indolenz der Kinder und die Selbstentfremdung der Erwachsenen oder für das eskalierende Gefühl totaler Einsamkeit mitten unter Menschen. Sie erfindet Chiffren wie die Sorge um den abgetrennten Kopf im Blumentopf und die obszöne Show, in der die Erzählerin als Einzige ihren Platz verlässt - wie Rasha Abbas es getan hat. "Nichts ist euch passiert, doch musstet ihr mit ansehen, was anderen widerfuhr", heißt es allgemeingültig zuletzt in der "Geschichte der stehen gebliebenen Herzen".
Unter Autoren wird immer wieder erzählt, deutsche Verlage wollten ihren Lesern keine schlimmen Geschichten zumuten. Die verkauften sich nicht. Kinder haben da mehr Verstand, sie sind immer gerade an den schlimmen Geschichten interessiert. Warum man sie auch als ängstlich und bequem gewordene Erwachsene lesen soll? Vielleicht, weil einen das Teilen von erzählten Erfahrungen in der Welt verankert, auch wenn es die Erfahrungen anderer sind und auch wenn diese Erfahrungen furchtbar sind. Und was die syrische Literatur angeht, so wird es in den kommenden Jahren spannend sein, live zu verfolgen, wie die jüngeren Autorinnen und Autoren mit ihren Traditionen umgehen, mit ihnen brechen, sie bewahren und sie - wie uns - verwandeln.
Rasha Abbas: Eine Zusammenfassung von allem, was war. Erzählungen. Aus dem Arabischen von Sandra Hetzl. Mikrotext, Berlin 2018. 168 Seiten, 20,99 Euro. E-Book: 10,99 Euro.