Erzählung:Tote können gut zuhören

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Das Klavier ist ein wichtiges atmosphärisches Detail in Hans-Ulrich Treichels Buch "Tagesanbruch". Darin erzählt eine Mutter dem Sohn von Entbehrungen, Flucht und Leid.

Von Ulrich Rüdenauer

Das schwarz schimmernde, in regelmäßigen Abständen gestimmte Klavier ist der Mittelpunkt der Wohnung: nicht mehr als ein Möbelstück, aber eines, das Beständigkeit und Wohlstand symbolisiert, die Materialisierung einer Sehnsucht nach Heimat und Aufstieg. Für den Vater ist die Anschaffung des Klaviers der Triumph des Kleinbürgers über die üblen Streiche, die das Leben bereithält. Spielen kann er es jedoch nicht, mit nur einem Arm - den anderen hat er treu ergeben dem Vaterland geopfert. Die Hoffnungen liegen auf dem Sohn.

Der aber interessiert sich zwar sehr für den schwierigen Transport des Klaviers ins obere Stockwerk, aber ein Horowitz oder Brendel schlummert in ihm nicht. "Solange ein Klavier im Haus steht, so lange haben wir ein sicheres Zuhause, hat dein Vater vielleicht gedacht." Mit dem Klavier ist das bürgerliche Idyll fast perfekt. Es fungiert als heimliches Zentrum der Wohnung, eine Schatztruhe, massiv und unzerstörbar, präsent und stumm.

Das Klavier ist ein bezeichnendes atmosphärisches Detail in Hans-Ulrich Treichels neuem Buch "Tagesanbruch". Darin erzählt eine Mutter dem Sohn ihre Geschichte, erzählt von Entbehrungen und der Flucht, von ihren Verletzungen und den alltäglichen Sorgen. Sie erzählt so freimütig, dass selbst das große Tabu der Familie zur Sprache kommt - die Vergewaltigung durch russische Soldaten in einem polnischen Wald, die sich auf der Flucht aus Wolhynien (in der heutigen Ukraine) gen Westen ereignet hat. Und sie spricht von der immer bekämpften und nie abweisbaren Ahnung, der Sohn könnte in diesem Schreckensmoment gezeugt worden sein. Die Offenheit der Mutter allerdings bleibt Selbstgespräch: Der Sohn liegt leblos in ihren Armen, in der Nacht ist er an einer schweren Krankheit gestorben. Er ist ein sehr stiller, ein sehr geduldiger Zuhörer dieser Beichte.

Hans-Ulrich Treichel: Tagesanbruch. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 86 Seiten, 17,95 Euro. E-Book 15,99 Euro. (Foto: suhrkamp)

Treichels Lebensthema ist die Verstörung der Nachkriegszeit

Hans-Ulrich Treichels Monolog einer Mutter endet erst mit Tagesanbruch. Im Schutz der Dämmerung vermag die alte Frau von ihren Erlebnissen zu berichten. Noch hat sie den Arzt nicht gerufen; erst der Morgen wird sie von ihrem Sohn und von ihren Erinnerungen trennen, ruhig und bedächtig versucht sie, mit Worten die ersten Sonnenstrahlen zu bannen. Ihre Rede ist eine vorsichtige Befreiung, eine behutsame Entblößung, bei der aber die wundesten Punkte nicht selten in Floskeln und Durchhalteparolen verpackt bleiben. Auch in diesem Moment der Wahrheit kann die Mutter nicht recht aus ihrer Haut. Die immer wiederholten Phrasen sind ein ähnliches Korsett wie jenes, das ihr übergewichtiger Mann trug, weil er im eigenen Textilgeschäft eine gute Figur machen wollte. "Man muss nicht alles mit seinen Kindern bereden. Man muss auch schweigen können." Verschweigen kann sie allerdings in diesen Morgenstunden nicht mehr viel; auch das Nichtausgesprochene erfüllt unweigerlich den Raum. Die Tragik einer disziplinierten und ihre Selbstbeherrschung doch an die Erinnerung verlierenden Frau hat Treichel auf nicht einmal neunzig Seiten eingefangen, den Mief der fünfziger und sechziger Jahre, das Aroma des Wirtschaftswunderdeutschlands, Vergeblichkeit und unverstandene Verstörung. Man erkennt den unbedingten Willen zu einem strebsamen Leben, das diesem Flüchtlingspaar Halt gegeben hat in der Fremde, wo die Einheimischen ihnen das Gefühl vermittelten, immer schon hier gewesen zu sein: "ewige Westfalen".

Ewiges Westfalen: Hans-Ulrich Treichel, 63 Jahre alt inzwischen, arbeitet sich daran seit Jahrzehnten redlich ab. Es gibt Autoren, die sich mit jedem Buch neu erfinden, in eine andere Sprache wie in ein neues Kostüm schlüpfen und eine klammheimliche Freude daran haben, den Erwartungen ihrer Leser Haken schlagend zu entrinnen. Hans-Ulrich Treichel gehört nicht zu ihnen. Er schöpft vielmehr aus einem begrenzten Reservoir an Formen, Themen und stilistischen Mitteln.

In seiner Prosa wechselt Treichel, der am Leipziger Literaturinstitut Diplomschriftsteller betreut, zwischen zwei Stoffkreisen hin und her: der "Leere der Kindheit" und dem tragikomischen durch die Welt Stolpern eines hypochondrischen Intellektuellen. Von der Herkunft aus Versmold in Ostwestfalen, einer "trübsinnigen Ansammlung von Zweifamilienhäusern und Umgehungsstraßen", versucht er sich hier wie dort wegzuschreiben, was immer zugleich auch ein Hineinschreiben bedeutet. "Tagesanbruch" ist bereits das vierte Buch, das die Flüchtlingsgeschichte der Eltern variierend aufgreift.

Berühmt wurde Treichel 1998 mit "Der Verlorene". Dort wurde aus der Perspektive eines Jungen das Kriegstraumata der Eltern ahnbar. Nun kehrt sich die Sprechsituation um. Die Mutter redet, der Sohn ist verstummt. Der altbekannte Treichel-Sound ist aber auch in dieser jüngsten Geschichte wiederzuerkennen. Es ist fast so, als ob er den "verlorenen Seelen" nur in diesem melancholischen Ton wehmütiger Resignation beikommen könnte. "Tagesanbruch" lässt uns Hans-Ulrich Treichel nicht neu kennenlernen. Aber die Erzählung macht wie in einem Brennglas das Lebensthema dieses Autors noch einmal sichtbar.

© SZ vom 23.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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