Erzählgenie des bürgerlichen Realismus:Mütter machen Leute

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Vor zweihundert Jahren wurde in Zürich Gottfried Keller geboren. Seine Helden lernen statt männlichen Stolzes weibliche Vernunft. Zum Beispiel in seiner bekanntesten Novelle.

Von Hannelore Schlaffer

Nicht "Kleider machen Leute", sondern "Mütter machen Leute" - dies ist der Hintersinn der satirischen Erzählung vom schönen Herrn Strapinski, den die Bürger Goldachs, wo er traumverloren einwandert, wegen seiner feinen Kleidung, einem Radmantel und einer Pelzkappe, für einen polnischen Grafen halten, obwohl er ein armer Schlucker ist. Sie verehren diese ungewöhnliche Erscheinung, veranstalten üppige Gastmahle für ihn, und er lässt dies, schüchtern wie er ist, mit sich geschehen und bringt sich in die größte Verlegenheit. Endlich arrangiert ein böswilliger Konkurrent ein Maskenfest, das seine Entlarvung zum Ziel hat. Beschämt rettet sich der vermeintliche Graf in die Arme der Geliebten, die, obwohl erst neuerdings mit ihm bekannt, treu zu ihm steht.

Die Novelle, 1874 in der Sammlung "Die Leute von Seldwyla" erschienen, wurde zu Kellers bekanntestem Werk. Ganz offenbar ist sie eine Satire auf die kleinstädtische Borniertheit. Auch liegt es nahe, in der Erzählung das problematische Verhältnis von Sein und Schein, von Wahrheit und Täuschung zu erkennen. Offensichtlich werden die ökonomischen Taktiken gerügt, mit denen die wohlhabenden Bürger durch List und Täuschung, durch den Verzicht auf all die Ehrlichkeit, mit der sie renommieren, zu Wohlstand kamen. Auch den schönen Grafen verwöhnen sie ja nur, weil sie sich Vorteile davon erhoffen.

Soweit wäre denn Keller nichts als der Satiriker, der mit Lachen die Wahrheit sagt. Doch hinter dieser Kritik der bürgerlichen Gesellschaft verbirgt der Erzähler eine andere und vielleicht sogar die eigene Geschichte. Der Keller, der in der Weltliteratur nicht seinesgleichen hat, ist jener, der hinter dem Mordsspaß von Strapinskis Komödie die schmerzhafte Legende "Mütter machen Leute" versteckt.

Strapinskis, des schönen und traurigen Schneiders Beichte vor seiner Geliebten enthüllt eine geheime Passion. Er rühmt und rügt die Mutter, deren Schönheitssinn ihn gekleidet und ihn so ein zweites Mal der Welt geboren hat. Sie entwarf ihn als die Gestalt, die nun ihr Schicksal auf sich zu nehmen hat. "Schön und traurig" - so akzeptiert Strapinski sich als eine Schöpfung der Mutter und bezaubert damit die Welt, indem er, scheinbar ein Schwindler, doch die wahrhafteste Seele ist und bleibt, die man sich denken kann.

Nicht Leidenschaft füreinander, der Glaube aneinander verbindet Nettchen und Strapinski

Das neue Thema, das Keller entdeckt und in vielen seiner Werke abwandelt, ist das Verhältnis Mutter - Sohn. In "Kleider machen Leute" kehrt wieder, was auch das Schicksal des "Grünen Heinrich" bestimmt: die Liebe des Helden zur Mutter, die schließlich seine Liebe zu allen Frauen prägt. Damit hat Keller neben der so leicht durchschaubaren Gesellschaftskritik und dem philosophischen Thema in die Novelle ein weiteres, für ihn viel charakteristischeres eingeführt: die keusche Liebe. Das Paar Nettchen - Strapinski ist von Anfang durch Glauben aneinander, nicht durch Leidenschaft füreinander verbunden. So wird Keller zum Dichter einer Liebe, mit der sich mehr als Erregung und Sehnsucht, mit der sich ein ganzes Leben gestalten lässt. Bis dahin haben Autoren solch eine Liebe, die in ein praktisches Einverständnis führt, als literarisches Motiv gemieden, weil es kein Pathos und keine Dramatik zulässt. In "Kleider machen Leute" jedoch mündet die Liebe in eine Geschäftseröffnung und ins Leben eines gutbürgerlichen Ehepaares.

So führt die Novelle eigentlich dahin zurück, wo sie begann, zu den braven Leuten von Seldwyla und Goldach, bei denen sich schließlich auch der romantische Graf einrichtet. (Am Ende wartet man geradezu auf einen nächsten Grafen, der nun auch Nettchen und Strapinski, dies wohlsituierte Paar, mit seinem vornehmen Auftritt hinters Licht führt).

Für eine Liebe, die nichts davon wissen will, was es heißt, ein Liebespaar zu sein, die vielmehr nichts anderes denken kann als ein Paar zu sein für immer und ewig, für diese anhängliche Liebe braucht es - und dies ist die dritte Seltsamkeit in Kellers Werk - einen anderen Mann als jenen Typus, der sonst in der Literatur fasziniert: es braucht den schüchternen Mann. Kellers Typus ist der Nicht-Held, ein Mann, der nicht einmal durch Leiden und Qualen groß wird. Dieser Mann ist unsicher, neigt zu Selbstzweifeln, und manchmal fühlt er sich sogar schuldig. Doch tut er auch dies in Maßen, so dass er seine Schuld schließlich vergessen kann und weiter so bescheiden leben darf wie zuvor.

Der schüchterne Mann findet sein Pendant in der selbstbewussten Frau

Das Porträt Strapinskis lugt in der Novelle nur in wenigen Szenen hinter der Komödie hervor, die der Erzähler für ihn aufführt. Doch handelt es sich um ein zentrales Motiv von Kellers Prosa. Auch in seinem Hauptwerk, dem "Grünen Heinrich", ist die verlegene Liebe des Helden zu den Frauen das Thema vieler rührender Szenen. Die zarte Liebe zwischen Heinrich Lee und Anna braucht nichts als flüchtige Blicke, leichtes Erröten, zarte Berührung der Hand, damit sich die Kinder verstehen. Ungewöhnlich für das prüde 19. Jahrhundert ist die Beschreibung einer erwachenden Sexualität in kindlichem Alter. Vorsicht den Frauen gegenüber bestimmt aber auch das Verhalten des Jünglings. Judith, der klugen und erfahrenen Frau, wagt er höchstens einmal im Übermut, frech ins Haar zu fahren und die Frisur zu zerwühlen.

Die für seine Zeit ungewöhnliche psychologische Hellsicht Kellers zeigt sich auch in der Anlage der Biografie der Männer. Diese sind Söhne ohne Väter. Sie wachsen in ärmlichen Verhältnissen auf. Statt männlichem Stolz lernen sie weibliche Vernunft, statt Mut Vorsicht, statt Ehrgeiz Sparsamkeit. So sind sie realitätsbewusst und gewappnet gegen die Anforderungen des gemeinen Lebens.

Mit solch einem bescheidenen Helden ist der "Grüne Heinrich" ein Künstlerroman ganz besonderer Art. Diese spezifisch deutsche Gattung schildert das unverstandene Genie, vor dem die Welt versagt. Der Künstler reagiert darauf mit Hochmut und Verachtung. Kellers Heinrich Lee hingegen scheitert an sich selbst. Statt großartige Gemälde zu malen, streicht er Fahnenstangen an, um seinen Lebensunterhalt zu sichern. So verwandelt sich denn auch seine enttäuschte Liebe zur hohen Kunst ins Pflichtbewusstsein eines gewissenhaften Beamten - wobei die Wiederbegegnung mit der schönen Judith tröstet, denn sie begleitet die Laufbahn von nun an mit mütterlicher Liebe. Der schüchterne Mann hat sein Pendant gefunden: die selbstbewusste Frau.

Die lebensbestimmende Mutterliebe - von Keller längst vor Freud entdeckt -, die praktische Liebe ohne Schwärmerei und Pathos und der genügsame Mann - diese Motive bestimmen auch Kellers Sprache, den dialektgefärbten, warmherzigen Ton, der Pathos und Rhetorik meidet. So kann sich denn der Leser mit Keller in die stillsten Winkel seines Herzens zurückziehen.

© SZ vom 19.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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