Erwachsenwerden:Was die Skizzen erzählen

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Erna Sassen: Ohne dich. Aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf. Mit Illustrationen von Martijn van der Linden. Verlag Freies Geistesleben, 2022. 264 Seiten, 19 Euro. Ab 14 Jahren. (Foto: Verlag)

Ein Mädchen, dem vom Vater Selbstbestimmung verweigert wird, ein Junge, der nur mit seinen Bildern das Leben ertragen kann.

Von Hilde Elisabeth Menzel

Mit dem Buch "Ohne dich" ist der niederländischen Autorin Erna Sassen ein auf mehreren Ebenen besonderes Jugendbuch gelungen. Schon die Ausstattung mit einem künstlerischen Cover, das die Zeichnung eines Mädchens mit einer Ziege zeigt, und die aufwendigen, farbigen Schnittverzierungen fallen aus dem Rahmen üblicher Jugendbücher. Beginnt man dann zu lesen, zieht einen die minimalistische Sprache (von Rolf Erdorf brillant ins Deutsche übersetzt), die sich im Laufe der Geschichte immer wieder wie ein Aufschrei des fünfzehnjährigen Icherzählers Joshua liest, sofort in ihren Bann. Begleitet wird sie von künstlerischen Skizzen von Martijn van der Linden (dessen Name leider nur im Impressum zu finden ist), die ein Teil der Geschichte sind und ein Schlüssel zum Verständnis für die Entwicklung des Helden und seiner Freunde.

Joshua ist in seiner Familie, aber auch in der Schule ein Außenseiter und kann sich mit seinen Zeichnungen besser ausdrücken als mit der Sprache. Nach der Trennung der Eltern und dem Auszug der älteren Geschwister, Überflieger alle drei, bleibt er beim Vater. Doch der wichtigste Mensch ist für ihn Zivan, seine Freundin. Zusammen mit ihren kurdischen Eltern und ihrem Bruder wohnt sie nach der Flucht aus dem Irak bei ihrer Tante Shanya, die mit einem Engländer verheiratet ist und sich von den strengen muslimischen Bräuchen befreit hat. Was auf Zivans Eltern leider nicht zutrifft. Als Zivan fünfzehn Jahre alt ist, kehren sie ohne jede Ankündigung und Abschied in ihre Heimat zurück. Zivans Vater hatte beschlossen, sie ohne ihre Einwilligung mit einem Cousin zu verheiraten. Einen Aufschub bekommt sie, als Tante Shanya an Krebs erkrankt, und ihre Schwester mit Zivan zurückkommt, um sie zu pflegen. Doch der Versuch der Tante, Zivan durch Flucht in wechselnde Frauenhäuser vor dem Vater zu retten, scheitert. "So ist es auch kein gutes Leben für Zivan. Immer auf der Flucht zu sein, das hält kein Mensch durch", versucht Tante Shanya Zivans Entschluss, sich dem Vater zu fügen, zu erklären. "Ich will kein schlechtes Mädchen mehr sein", sagt Zivan beim Abschied zu Joshua.

Dieser Einblick in die Parallelwelt streng gläubiger muslimischer Familien ist erschütternd, denn noch immer sind es die Väter, die über ihre Töchter bestimmen. So antwortet Zivans Vater auf die Frage von Tante Shanya, wie er reagieren würde, wenn Zivan - wie sie - einen Engländer heiraten würde: "Dann muss ich sie töten!"

Aber es ist noch eine andere Parallelwelt, die Erna Sassen ihren jugendlichen Leserinnen und Lesern aufzeigt, denn Joshua muss wegen schlechter Leistungen von der Realschule in die Hauptschule wechseln, wo das Recht des Stärkeren herrscht und der sanfte Joshua keine Chance hat. Doch hinter der Macho-Fassade der beiden gefürchteten Schlägertypen aus seiner Klasse verbergen sich empfindsame Jungen aus schlimmen häuslichen Verhältnissen, die einander helfen und ihr Verhalten Joshua gegenüber ändern, als sie ihm sein Skizzenbuch wegnehmen. Erstaunt erkennen sie seine große Begabung, nennen ihn von nun an "Rembrandt" und lassen sich Tattoos nach seinen Entwürfen stechen. (ab 14 Jahre)

© SZ vom 08.04.2022 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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