Erfolgsautor:Vernähte Leiber

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Sein Erfolg ging von Deutschland aus, dort wurde sein Roman "Der Medicus" entdeckt. Nun wird der Autor Noah Gordon neunzig.

Von WILLI WINKLER

Noah Gordon ist Amerikaner, aber eine deutsche Erfindung. Sein Roman "The Physician" (Der Arzt) war bei seinem Erscheinen 1986 in den USA durchgefallen. Fast niemand wollte die Geschichte des Londoner Waisenknaben Rob Cole lesen, der sich im frühen 11. Jahrhundert aus seinem bunten Elend arbeitet, um der modernste Arzt nicht nur seiner Zeit zu werden. In München las der Verleger Karl Blessing den Roman und war so hingerissen von der Geschichte, dass er sofort die Rechte erwarb, das Buch übersetzen und als Erstes kostenlos an fünftausend Buchhändler schicken ließ, die nicht weniger hingerissen lasen. Der neue halbwissenschaftliche Titel "Der Medicus" half dabei. Bis heute wurden allein in Deutschland mehr als sechs Millionen Exemplare verkauft.

Im Land von Sauerbruch und Hackethal, von Dr. Brinkmann und Dr. Guttenberg war dieser Erfolg vielleicht doch kein reiner Zufall. Skepsis der reinen Lehre gegenüber verträgt sich bestens mit der Anbetung der schamanenfernen Weißkittel. Der Heftroman wird zwar in der Ordination nicht regelmäßig verschrieben, aber vom Volkskörper umso leidenschaftlicher eingenommen. Es dürften aber vor allem die Nebenwirkungen wissenschaftlich gesättigter Mittelalterei gewesen sein, die in ihrer Exotik so bezwingend wirkten. Rob Cole, der jugendliche Held, geht nicht nur wie ein Parsifal durch das schönste Mittelalter, er interessiert sich für fremde Frauen, ungewöhnliche Kulturen und kunstvoll aufgerissene und wieder vernähte Leiber. Noch in zwei weiteren Romanen erzählte Gordon die Geschichte Coles und seiner Nachfahren und sparte dabei nicht mit blutigen Details aus der Medizingeschichte, aber wenn's hilft, warum nicht.

In Spanien war Gordons Erfolg kaum kleiner. Er dankte es seinem Publikum, indem er sich in seinen späteren Büchern der synkretistischen Kultur zuwandte, die das späte Mittelalter Spaniens erleben konnte: Christen, Mauren und Juden im keineswegs friedlichen, aber erstaunlich toleranten, sich gegenseitig befruchtenden Miteinander. In Deutschland nimmt die Medizin-Karriere kein Ende: Philipp Stölzl verfilmte den "Medicus" als burgenlastige Phantasmagorie, in Fulda gibt es neuerdings sogar eine Oper.

In Europa lieben sie ihn, in Amerika wissen sie noch immer nichts von ihm. Noah Gordon wird es verschmerzen. Der zum Bestsellerautor avancierte ehemalige Journalist wird an diesem Freitag neunzig Jahre alt.

© SZ vom 11.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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