Entdeckungen in der Reihe "Encounters":Hellseherinnen

Lesezeit: 5 min

Was ist der Sinn der neuen, vom Chef Carlo Chatrian selbst kuratierten Reihe "Encounters"? Verführungen, Verstörungen und die Wucht des Unausgereiften - ein erstes Fazit.

Von Annett Scheffel

Die Kamera ist mit dem Mädchen unter der Bettdecke, ganz nah. "Kannst du dich erinnern?" flüstert Elli in die Nacht hinein. "Damals am Strand?" Der Vater bleibt stumm. Gerade noch hat er sie in den Arm genommen, weil sie nicht schlafen kann. Jetzt beschleicht einen das Gefühl, das es eigentlich sie ist, die ihn tröstet.

Es ist eine der beklemmendsten Momente, die man bei der diesjährigen Berlinale sehen konnte. Beklemmend, weil sie so vertraut wirken, die zehnjährige Elli (Lena Watson) und der Mann, den sie "Papa" nennt, und weil man trotzdem spürt, dass hier etwas nicht stimmt. So leise, so subtil ist das Grauen, das unter diesen Szenen liegt, so schwer greifbar das Unwohlsein, das beim Zuschauen langsam ins Bewusstsein kriecht, dass man beginnt, an der eigenen Wahrnehmung zu zweifeln.

Das Mädchen Elli mit den dunklen kurzen Haaren in Sandra Wollners Film "The Trouble with Being Born" ist kein echter Mensch, sondern ein Androide, ein menschenähnlicher Roboter mit programmierten Erinnerungen - und, wie erst allmählich deutlich wird, der Ersatz für die vor zehn Jahren verschwundene echte Tochter. Und der Mann, mit dem sie in einem schicken Haus am Stadtrand von Wien einen vermeintlich unbeschwerten Sommer verbringt, scheint nicht nur väterliche, sondern auch sexuelle Gefühle für sie zu hegen - was noch viel unheimlicher wird.

Sandra Wollner erzählt mit unglaublicher Eleganz von etwas, das abstößt

Dass Sandra Wollner unsere böse Vorahnung nie eindeutig bestätigt, dass sie das Ausleben dieser unerträglichen sexuellen Fantasie nie zeigt, sondern immer nur andeutet, in Blicken und kurzen, zweideutigen Dialogen, das ist die große Kunst dieser ungewöhnlichen Dystopie. Der zweite Spielfilm der österreichischen Regisseurin ist ein Film der Andeutung und der unausgesprochenen menschlichen Sehnsüchte. Und er ist eine kleine Sensation: mutig, polarisierend, Drama, Horror, Science-Fiction und Psychothriller in einem und zugleich nichts davon so richtig. Ein Film, der mit einer Eleganz von dem erzählt, was uns abstößt, wie man es lange nicht gesehen hat. Am verstörendsten: Dem Androidenmädchen ist alles egal.

Was ist so verstörend an diesem Wesen, das wie ein normales Mädchen wirkt? Szene aus „The Trouble With Being Born“ von Sandra Wollner. (Foto: Berlinale)

"The Trouble with Being Born" läuft bei der Berlinale in der vom künstlerischen Leiter Carlo Chatrian neu geschaffenen Reihe "Encounters", über deren Profil und Zweck im Vorfeld viel gerätselt wurden war. Um Formenvielfalt, hieß es, solle es gehen, um experimentellere Erzählformen und die Förderung noch nicht so etablierter Regisseure und Filmemacherinnen, die neben einigen Veteranen wie Alexander Kluge und Heinz Emigholz stehen. "Encounters" hat auch einen Preis, ein Wettbewerb neben dem Wettbewerb, vergleichbar mit "Un certain regard" in Cannes. Das künstlerisch wagemutigere Programm, das alle vom Chatrian erwartet haben, es zeigt sich hier deutlicher als im offiziellen Wettbewerb - mit mal spielerischen, mal spröderen, immer aber klugen Arthouse-Werken. Auch wenn es angesichts der fünfzehn sehr unterschiedlichen Filme tatsächlich schwierig bleibt, eine klare Linie herauszulesen.

Auf den ersten Blick erkennt man vor allem Diversität. Neben Wollners Androiden-Gruselstück ist da etwa "Malmkrog", Cristi Puius hochkomplexes, dreieinhalbstündiges Tableau einer Aristokratengruppe, mit dem die Reihe eröffnet wurde und das sich fast ausschließlich aus zähen, philosophischen Dialogen aufbaut. Da ist das fiebrige Nachtstück "Los Conductos" des Kolumbianers Camilo Restrepo, und da ist Victor Kossakovskys dokumentarische Tragödie "Gunda", die sich dem täglichen Nutztierdasein von Huhn, Sau und Rind in schönen Schwarzweißbildern nähert. Alexander Kluge, der Altmeister des deutschen Kunstkinos, tobt in "Orphea" mit einer anstrengenden Wahnhaftigkeit durch flimmernde Blue-Screen-Billigkulissen und rezitierte Menschheitsgeschichte (toll ist allerdings Lilith Stangenberg als weibliche Weiterentwicklung des antiken Orpheus); Ivan Ostrochovský inszeniert in "Servants" das Ringen zweier tschechoslowakischen Priesterschüler zwischen Glauben und Kollaboration mit der sozialistischen Staatssicherheit als stillen Film noir. Kurzum: eine Tour de Force durch allerhand Zeiten, Länder, Themen und Bildästhetiken. Was die Filme bei näherer Betrachtung am ehesten eint, ist die Wucht der jeweiligen Seherfahrung: Sie interessieren sich auf ungewöhnlich präzise Weise für ihre Sujets, ihre Perspektiven sind allesamt eigenständig und immersiv, und im besten Fall, wie in "The Trouble with Being Born", ziehen sie den Zuschauer hinein in ihre Sicht auf die Welt.

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Überhaupt überzeugen in "Encounters" die jungen Talente, zu denen auch Melanie Waelde gehört. Ihr kraftvoller Debütfilm "Nackte Tiere" spielt nicht in der Zukunft, sondern ganz und gar in der Gegenwart. Waelde zeigt fünf Teenager in der brandenburgischen Provinz kurz vor dem Abitur. Ein Leben zwischen Judotraining und Neubaublock. Viel passiert hier nicht, keine Aufbruchsstimmung, keine jugendliche Nostalgie, wenn man ein wenig Freiheit will, braucht man ein Auto. Darin kann man zur Not auch Sex haben.

An diesem trostlosen Ort im fahlen Winterlicht sind diese jungen Menschen ihre eigene Familie. Die Eltern sind abwesend, gewalttätig oder zu schwach; viel erfährt man nicht über sie. Rätselhaft bleibt auch die Hauptfigur Katja (Marie Tragousti), auch wenn Waelde mit der Kamera mitunter zentimeternah an ihr dran ist. Ganz unmittelbar spürt man unter der ernsthaften Fassade aber die Wut - auf nichts Bestimmtes, also auf alles.

Eine Chance für neue Stimmen, ästhetisch stark, aber noch nicht ganz ausgereift

Das Tolle, das Erstaunliche an diesem Debütfilm: Hier geht es einmal nicht um die Flüchtigkeit der Jugend, sondern um deren Körperlichkeit: Im ungewöhnlich schmalen 6:5-Bildformat müssen die jungen Körper ganz nah zusammenrücken. Wir sehen sie, wie sie ineinandergreifen und sich balgen, sich umarmen und zum Spaß schlagen; wir sehen blaue Flecken und Schürfwunden. Und wir sehen die unausgesprochene Solidarität, die sich darin ausdrückt - und die sich höchstens von Waeldes fast quadratischem Bildrahmen, nicht aber von sozialen Milieus oder klar definierten Beziehungen zueinander einengen lässt. "Nackte Tiere" ist vielleicht der klarste Hinweis drauf, wo Carlo Chatrian mit "Encounters" hinmöchte: neuen Stimmen, die ästhetisch stark, aber für eine Teilnahme am Wettbewerb noch nicht ganz ausgereift sind, Raum zu bieten. In einer der klassischen Nebenreihen hätte Melanie Waelde nicht die verdiente Aufmerksamkeit bekommen.

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Anders liegt die Sache im Fall von Josephine Deckers exzessivem Psycho-Biopic über die Horrorautorin Shirley Jackson. "Shirley" hätte ganz klar in den Wettbewerb gehört, zumal er für Chatrians Anspruch einer Berlinale als herausforderndem Publikumsfestival eigentlich ein Glücksfall ist. Er erzählt von der Begegnung zweier Paare, eine "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?"-Geschichte der Mikroaggressionen und tolerierten Demütigungen, die langsam ihren Wahnsinn enthüllt. Die schwangere Rose (Odessa Young) zieht mit ihrem Ehemann zum Collegeprofessor Stanley Hyman und seiner Ehefrau Shirley Jackson. Das efeuumrankte, alte Haus im Vermont der frühen Fünfzigerjahre ist - noch deutlicher als in "Nackte Tiere" - ein Ort der Enge, insbesondere für die Frauen. Bald entspinnt sich zwischen Rose und der so genialen wie seelisch zerrütteten und unberechenbaren Shirley eine Beziehung, in der Realität und Horrorfiktion zunehmend verschwimmen. Decker inszeniert mit beweglicher Kamera und ekstatischen Blickwechseln ein lustvolles Kino verborgener weiblicher Albträume und Sehnsüchte, in dem Elisabeth Moss als Herrin des Wahnsinns eine Sogkraft entwickelt. Ihre Shirley sieht die Grausamkeit des Lebens so klar, dass es schmerzt und zugleich tröstet. Und auch wenn Chatrian das Profil seiner neuen Reihe in Zukunft noch weiter schärfen sollte, so ist es vor allem diese Hellsicht, die von Shirley ebenso wie die des Androidenmädchens Elli, die "Encounters" zu einem Zugewinn für die Berlinale macht.

© SZ vom 29.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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