Englischsprachige Lyrik:Kauen, Kneten, Brüllen

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Die große Box "The Poet's Collection" versammelt dichterische Originaltöne aus 130 Jahren.

Von Tobias Lehmkuhl

Eine der ersten Aufzeichnungen einer Dichterstimme stellt zugleich das Dokument dichterischen Lampenfiebers dar: Angesichts des neuartigen Phonographen und seines Schalltrichters erklärt sich Robert Browning 1889 zwar bereit, seine Ballade "How they brought the good news from Gent to Aix" vorzutragen, aber schon nach den ersten Versen muss er abbrechen. Er hat den Text vergessen. Zu hören ist noch, wie er sein Bedauern ausdrückt, um schließlich ein diese Misslichkeit kaschierendes "Hipp-Hipp-Hooray" in die Runde zu brüllen.

Überhaupt hat man den Eindruck, dass Brüllen in jenen Anfangsjahren der Schallaufzeichnung, die beste Art war, den Gedichtvortrag auf die Wachswalzen zu zwingen, sind die Eigengeräusche des Apparats doch derart laut, dass es klingt, als würden Browning oder Alfred Lord Tennyson, deren Stimmen der erste Europa-Vertreter von Thomas Alva Edisons patentierter Erfindung der Nachwelt überliefert hat, ihre Verse in schwerstem Geschützdonner deklamieren.

Was für ein Glück, dass Walt Whitmans Stimme auf uns gekommen ist

Die von Christiane Collorio und Michael Krüger herausgegebene, 130 Jahre umspannende Anthologie "The Poet's Collection" bietet reichlich Gelegenheit, die Fortschritte der Aufnahmetechnik zu beobachten. Zu beobachten, nicht zu bestaunen, wohlgemerkt. Denn einerseits dauerte es lange fünfzig Jahre, bis tatsächlich auch für heutige Ohren passable Mitschnitte möglich waren, andererseits hatten Dichterlesungen immer auch unter einer gewissen technischen Gleichgültigkeit zu leiden. Aufgrund mangelnder Vermarktungschancen wurden Dichterinnen und Dichter bis Ende des 20. Jahrhunderts kaum je in Aufnahmestudios verbracht. Stattdessen hielt man ihnen einfach irgendein Mikrofon unter die Nase. Nicht selten, so scheint es, müssen es auch Fans gewesen sein, die bei einer Lesung, und sei es in der letzten Reihe, das Tonband angeworfen haben. Der mikrofonscheue Ernest Hemingway nahm sich selbst mit einem primitiven Diktiergerät auf. So klingt sein "Second Poem to Mary" nicht viel besser als Brownings "How they brought the good news from Gent to Aix" sechzig Jahre zuvor.

Doch aller technischen Schwierigkeiten zum Trotz: Es ist kein Gedicht unter den 192 Gedichten auf dieser Anthologie, dem man nicht mit Interesse lauschte, angefangen mit dem wahrscheinlich allerersten, von Thomas Edison selbst angefertigten Mitschnitt: Vier Zeilen aus Walt Whitmans sechszeiligem Gedicht "America". Dass Whitmans Stimme, die des wohl bedeutendsten amerikanischen Dichters, auf uns gekommen ist - eines Zeitgenossen Georg Büchners! - ist vielleicht kein Wunder, aber doch ein wunderbares Glück.

Christiane Collorio, Michael Krüger (Hrsg.): The Poet's Collection. Englischsprachige Dichtung im Originalton und in deutscher Übersetzung. Der Hör- verlag, München 2018. 13 CDs, 99 Euro. (Foto: N/A)

Trotz aller Walzengeräusche sind seine Stimme und Diktion klar zu erkennen, und diese Diktion unterscheidet sich erstaunlich von der Brownings oder Tennysons, ist sie doch so natürlich wie bestimmt und nicht von dem wolkigen Tremolo getragen, dass man gerade mit früheren Dichterlesungen gerne in Verbindung bringt.

"The Poet's Collection" macht ohnehin deutlich, wie sehr der Personalstil die Lesungen und Rezitationen prägt, und wie wenig der Zeitgeschmack. William Butler Yeats etwa singt eher als das er vorträgt. Bei "The Lake of Innisfree" wogt seine Stimme auf und ab wie ein Kahn auf rauer See. Auch sein "Song of the old mother" klingt, wie der Titel schon andeutet, ganz und gar liedhaft. Ganz anders da die wenig später aufgenommene Gertrude Stein. Eins ihrer beiden Gedichte in dieser Sammlung heißt "A Description of the 15th of November", eine Beschreibung also, und so sachlich klingt dann auch Steins etwas strenge Stimme.

An jenem 15. November, von dem bei Stein die Rede ist, war T.S. Eliot im Hause der Dichterin zu Besuch, weshalb das Gedicht auch den Untertitel "A Portrait of T.S. Eliot" trägt. Über Eliot verrät der sprachspielerische Text freilich wenig. Aufschlussreich ist dagegen Eliots Lesung von "The Waste Land": Hier erweist sich der Dichter als bester Interpret seiner selbst. Dank seines langsamen, ja forschenden Sprechrhythmus lassen sich die komplexen Bewegungen seines Langpoems bestens nachvollziehen.

Anders als in Deutschland gab es in Großbritannien oder den USA nie eine Diskussion um das Für und Wider von Langgedichten. Zahlreich sind die Beispiele in dieser Sammlung, neben Eliots "Waste Land" sind W.H. Audens tatsächlich an eine Grabrede gemahnendes "In Memory of W.B. Yeats" oder Carl Shapiro Genesis-Anverwandlung "Adam and Eve" zu hören, auch Ausschnitte aus den "Cantos", die Ezra Pound mit müder aber eindringlicher Stimme vorträgt. Die Anthologie bietet zudem einen Einblick in die Vielgestalt der englischen Sprache. Neben Eliots angelerntem Highbrow-Idiom, Joseph Brodskys Russisch-Englisch, Yeats irischem Singsang oder Allen Ginsbergs Ostküsten-Klarheit, kann man Spuren des karibischen Patois in Derek Walcotts "Midsummer" nachspüren oder mitverfolgen, wie der Australier Les Murray die Vokale in seinem Mund genüsslich kaut und knetet. Ohnehin haben Murrays Gedichte etwas Lautmalerisches an sich, vor allem sein großartiges "Fledermausultraschlall".

Tiere sind insgesamt ein gern gewähltes Thema. Elisabeth Bishop widmet sich den Fischen, Ted Hughes besingt den Otter und Ogden Nash poetisiert den Truthahn: "Kein Tier kommt leichter die Wut an/ als unter Hennen den Truthahn./ Solang er vor sich hinstolziert/ herrscht Selbstbespiegelung im Geviert,/ schaut er aber etwas skeptisch/ wird sein Harem epileptisch./ Wenn er dann gar noch wackelt/ wird ihr Weltbild verwackelt".

Die Gegenstände der Gedichte dieser Auswahl sind freilich so zeitlos wie vielfältig: Heimatgedichte wie Whitmans "America", Reisegedichte wie Rudyard Kiplings "France", Technikgedichte wie Walter de la Mares "The Railway", außerdem Kriegslyrik, Liebeslyrik, philosophische Stücke, erzählerische, Porträt- oder Gemäldegedichte.

Chronologisch nach Geburtsjahr ihrer Autoren und Autorinnen geordnet stehen viele starke neben einigen eher schwachen Gedichten, Hemingway, John Updike oder Michael Ondaatje zum Beispiel haben andere Stärken als die Verskunst. Aber wie in jedem guten Gemälde verstärkt der Schatten das Licht.

War das erste Kriterium bei der Auswahl, so die Herausgeberin Christiane Collorio in ihrem Begleittext, die bloße Verfügbarkeit, so haben glücklicherweise viele der Dichterinnen und Dichter, von denen nur wenige Aufnahmen existieren, nicht zufällig auch einige ihrer besten oder zumindest bekanntesten Werke eingelesen. Erfreulich auch, dass neben H.D. und Gertrude Stein früh schon andere Dichterinnen vors Mikrophon getreten sind: Marianne Moore, Edith Sitwell oder Edna St. Vincent Millay kann man auf "The Poet's Collection" hören. Aus der zweiten Jahrhunderthälfte ist beispielsweise die vermeintlich so labile Sylvia Plath dokumentiert. Äußerst kraftvoll trägt sie "Plötzlicher Tod", "Der Kandidat" und das angsteinflößende "Lady Lazarus" vor: "Aus dieser Asche/ steig ich auf mit rotem Haar/ und esse Männer ganz und gar".

"Seht mir nach, dass ich euch anrede/ durch ein Gedicht, es gibt kein anderes/ taugliches Mittel."

94 Dichterinnen und Dichter umfasst die Auswahl, alle im Originalton und in deutscher Übersetzung. Bei einer solchen Anzahl ist es nur natürlich, dass der eine überzeugender liest als der andere, aber eine Kritik gerade der deutschen Stimmen wäre hier schnell geschmäcklerisch. So könnte der Rezensent stundenlang Michael Krüger lauschen, dessen Märchenonkelstimme (die wohlgemerkt nicht mit einer Märchenonkeldiktion einhergeht) vielleicht nicht jedem immer angemessen scheint. Argumente gegen Martin Wuttke, Hanns Zischler oder Bibiana Beglau dürften ohnehin nur die Allerfindigsten finden. Wollte man an dieser immerhin dreizehn CDs umfassenden Sammlung etwas aussetzen, so wäre es die Tatsache, dass es keine vierzehnte CD gibt, auf der heute Dreißig- oder Vierzigjährige zu hören wären, Ben Lerner, Ange Mlinko oder Ishion Hutchinson etwa.

Dreißig- bis vierzigjährige Stimmen sind freilich viele zu hören, selbst wenn ihre Besitzer zum Zeitpunkt der Aufnahme schon deutlich älter sind. So liest William Carlos Williams, der, nicht zuletzt wegen der Initialen, legitime Nachfolger Walt Whitmans, 1954 in seinem Haus in Rutherford drei Gedichte vor. Da ist Williams schon fast siebzig Jahre alt, aber er klingt doch so hell und jung, als würde er gleich mit Jack Kerouac on the road gehen. Gerade ihn, den großen Lakoniker, hätte man sich dunkler und deutlich älter vorgestellt, aber hier klingt er so frisch wie am ersten Tag: "Seht mir nach, dass ich euch anrede/ durch ein Gedicht, es gibt kein anderes/ taugliches Mittel."

© SZ vom 09.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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