Englische Literatur:Alles fließt, alles verrinnt

Lesezeit: 3 min

John McGregor erzählt in seinem Roman "Speicher 13" von einem Dorf in Mittelengland. Ein Mädchen verschwindet, die Jahre vergehen: "Das vermisste Mädchen hieß Rebecca oder Becky oder Bex".

Von Ulrich Baron

In seiner 1766 verfassten Schrift "Laokoon oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie" spricht Gotthold Ephraim Lessing der bildenden Kunst den Raum, der Literatur hingegen die Zeit zu, da sie mit aufeinanderfolgenden Wörtern aufeinanderfolgende Handlungen darstelle. Seitdem die Bilder laufen lernten, erscheint dies obsolet, aber schon im 16. Jahrhundert traf diese Scheidung nur bedingt zu. Was ein Pieter Bruegel der Ältere auf seine Jahreszeitenbilder gebannt hat, lässt sich mit einem Blick nicht fassen. In zahlreichen Details steckt eine stillgestellte Handlung, die auf ein Vorher und ein Nachher verweist.

In seinem Roman "Speicher 13" hat der 1976 geborene Jon McGregor dazu ein literarisches Gegenstück geschaffen: Ob Frühjahr, Sommer, Herbst oder Winter - alles kreist hier um einen Tag in der Weihnachtszeit, als ein dreizehnjähriges Mädchen verschwand: "Das vermisste Mädchen hieß Rebecca, oder Becky, oder Bex", heißt es immer wieder refrainartig. Und so viel auch der fast allwissende Erzähler aus einem kleinen Dorf in Mittelengland zu berichten weiß, dreht sich doch alles um jene Leerstelle, die ihr Verschwinden hinterlassen hat. Dreizehn Kapitel hat das Buch, zwölf beginnen mit der Begrüßung des neuen Jahrs; nur das erste setzt einige Tage davor mit der vergeblichen Suchaktion ein.

Berge, ein Fluss mit den titelgebenden Speicherseen, ein Steinbruch, Heide und Moor, Höfe und Schafweiden geben diesem Dorf einen malerischen Hintergrund. Schafzüchter, ein Töpfer und die Arbeiten im Gemeinschaftsgarten liefern Genreszenen, doch der Schlachter steht bald hinter der Fleischtheke eines Supermarkts. Jahreszeitliche Ereignisse, die Geburt neuer Füchse, Amseln, Springschwänze und Lämmer wie auch das Pflanzen und Ernten geben der Erzählung etwas Zyklisches, das durch Wiederholung ähnlicher Formulierungen noch akzentuiert wird.

"Um Mitternacht wurde das neue Jahr in der Stadt hinter den Bergen mit einem Feuerwerk begrüßt", heißt es im ersten Kapitel, aber hören können habe man nichts und hingeschaut habe niemand. Zu Beginn des zweiten Kapitels gibt es schon Schaulustige, im dritten hat man im Dorf eigene Feuerwerkskörper. Im zehnten aber heißt es ironisch: "Um Mitternacht wurde das neue Jahr mit einem brennenden Wohnwagen auf Fletchers Streuobstwiese begrüßt." Nach weiteren Brandstiftungen wird der Vater des vermissten Mädchens festgenommen. Vielleicht wollte er ein Fanal gegen das Vergessen setzten.

"Aber man konnte ja davon ausgehen, dass die Viecher wussten, was sie taten."

McGregors Erzähler verfolgt das Treiben von Menschen und Tieren unpathetisch, lakonisch, bisweilen mit einer leise ironischen Amüsiertheit: "Die Konstruktion aus dünnen Zweigen schien kaum stabil genug, um das Gewicht eines dicken Vogels zu tragen", heißt es über die Nester der Ringeltauben: "Aber man konnte ja davon ausgehen, dass die Viecher wussten, was sie taten." Weniger tragfähig erscheinen die Nester der Menschen. Häuser verfallen und Körper, Ehen zerbrechen, Familien, doch das Leben geht weiter, und was der Erzähler darüber sagt, beschränkt sich oft auf anekdotische Andeutungen.

Obwohl der Erzähler in jedes Haus, in jedes Nest, in jeden Fuchs- und Dachsbau zu schauen vermag, tritt das vermisste Mädchen nur in Rückblicken auf, in Erzählungen, Träumen, Mutmaßungen. Die Polizei bleibt eine anonyme Instanz, die Pressekonferenzen abhält und verlautbart, der Fall werde weiterverfolgt.

Hier und dort gibt es kleine Hinweise. Etwa auf jenen Woods, der nicht die Sorte Mann sei, "über die man mit der Polizei rede", und auch auf eine Reihe anderer Leute, die nicht sagen, was sie sagen könnten. Im Kriminalroman böte das Ansätze zu Aufklärung. McGregors Erzähler erwähnt es - wie alles - nur am Rande und verfolgt die Spuren, die das Verschwinden des Mädchen durch sein Dorfbild zieht, wie Wellen, die ein längst versunkener Stein auf einem Teich ausgelöst hat.

Wasser spielt hier überhaupt eine wichtige Rolle - der Fluss und die Speicherseen, Wehre, Rohre und Tiefen, aus denen Taucher mit leeren Händen auftauchen. Alles fließt, alles verrinnt. Auch das Moor, das beim Verschwinden des Mädchens gefroren war, gerät immer wieder in den Blick, fördert Fantasien doch keine Rebecca zutage. Man liest dies mit Neugier, leisem Schauder, manchmal amüsiert, merkt sich Namen und vergisst sie wieder, stellt dann mit Erstaunen fest, wie viele Jahre inzwischen vergangen sind. Kinder sind erwachsen geworden und ausgezogen, Handys wurden erfunden.

Jon McGregors "Speicher 13" fasst das Leben einer Dorfgemeinschaft, exemplarisch für unser aller Leben, ins Bild eines mählichen Wandels im Rahmen ewiger Wiederkehr, in ein Bild, das die Grenzen zwischen "Mahlerey und Poesie" aufhebt. Die Zeit heilt keine Wunden und dreht sich um etwas, das so tragisch wie absurd ist. "Das vermisste Mädchen hieß Rebecca, oder Becky, oder Bex", heißt es: "Überall hätte sie stürzen können, und dort würde sie heute noch liegen." Man ahnt, dass es keine Hoffnung gibt, und hofft doch irgendwie weiter.

Jon McGregor: Speicher 13. Aus dem Englischen von Anke Caroline Burger. Liebeskind, München 2018. 352 Seiten, 22 Euro.

© SZ vom 31.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: