Englische Gegenwartsliteratur:Die Kosenamen des Hundes

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Woher kommt nur der seltsame Summton in dieser "Liebesgeschichte, die mit einer Trennung beginnt"? In seinem neuen Roman "Thomas & Mary" erzählt Tim Parks vom Zerfall einer Ehe.

Von Kristina Maidt-Zinke

Im englischen Original trägt der neue Roman von Tim Parks den Untertitel "A Love Story". Das ist, wie sich bei der Lektüre herausstellt, britische Ironie vom Schwärzesten, denn es geht in "Thomas & Mary" um die unaufhaltsam fortschreitende Erosion einer Ehe. Die deutsche Fassung präsentiert sich etwas wortreicher als "Liebesgeschichte, die mit einer Trennung beginnt", und der Autor hat eigens ein Nachwort angehängt, das in der Warnung gipfelt, "dass die deutsche Ausgabe nicht ganz so ist wie die englische". Sie gehe "einen Schritt weiter".

Rätselraten ist also angesagt. Aber bis zur Lösung mutet Tim Parks den Lesern einiges zu: Es ist, als sollten sie die mühsam unterdrückte Gereiztheit und Ungeduld, die Resignation und die Fluchtreflexe des Paares am eigenen Leibe nachvollziehen. Dies ist mitnichten der "wunderbar leichte Roman", den der Klappentext ankündigt. Dass er es auch gar nicht sein will, verrät schon seine komplexe Struktur: Der Autor hat sich nicht damit begnügt, die Geschichte eines sich über dreißig Jahre dehnenden Auseinanderlebens unter komfortablen Mittelklasse-Bedingungen episodisch und in Rückblicken zu erzählen.

Vielmehr fügt er Szenen, Situationen, beinahe buchhalterische Bestandsaufnahmen und wechselnde Perspektiven von Beobachtern innerhalb und außerhalb des Familienzirkels zu einem Mosaik, das als Gesamtbild viel mehr vom menschlichen Leben zeigt als nur das ganz normale, schleichende Ehe-Elend.

Wie und wann dieses Elend in einer durchschnittlichen, mehr oder weniger euphorisch begonnenen Liebesbeziehung seinen Anfang nimmt, bleibt im Dunkeln, ebenso wie der Zeitpunkt, an dem die Pflanze, die das Paar zur Hochzeit geschenkt bekam, nach jahrelangem Hin und Her zwischen Verkümmerung und neuen Trieben endgültig eingegangen ist. Parks schreibt keine Chronologie des Scheiterns, er schaltet sich in den laufenden Prozess ein, springt vor und zurück und hört mitten im Ungewissen auf.

Wenn Thomas im Eingangskapitel seinen Ehering am Strand von Blackpool verliert und Mary im selben Jahr, kurz vor Weihnachten, ihren Ring ebenfalls ablegt, weil Thomas keine Anstalten macht, sich einen neuen zu kaufen, dann wird nicht klar, in welchem Stadium der sanften Zerrüttung wir uns gerade befinden, aber beiläufig erfahren wir, dass die Kinder noch im Sand buddeln: Es muss sich also um eine relativ frühe Phase der Ehe handeln.

Am Ende der nächsten Episode sind die Kinder bereits alt genug, sich zu fragen, ob sie für ihre sichtbar unglücklichen Eltern vielleicht etwas tun können. Zuvor hat der Autor lapidar die "Bettzeiten" protokolliert, will sagen, die Gewohnheit des Paares, durch unterschiedliche Präferenzen und Rituale der Abendgestaltung einander im Schlafzimmer auszuweichen. Bei diesen Vermeidungsstrategien kommt auch Cockerspaniel Ricky ins Spiel, dessen Rolle als "einziger gemeinsamer Freund" der Eheleute im Roman ein wichtiges Thema bleibt. In einem ziemlich skurrilen Kapitel geht es um Kosenamen; ein anderes dokumentiert, was Thomas, seiner Routine folgend, bei Tag und bei Nacht tut.

Das gut ausgestattete Haus teilt sich irgendwann von selbst in "Zonen" für die Ehepartner auf

Und was er nachts träumt, sagt so viel über die Lage der Dinge aus, dass es keines Erzählerkommentars bedarf: "In der Nacht träumt Thomas von einem merkwürdigen, starken Summton. Er geht vom Schlafzimmer in den ersten Stock hinunter, dann vom ersten Stock ins Erdgeschoss, vom Erdgeschoss in den Keller, und steigt von dort eine weitere Treppe nach unten, immer weiter, über stockdunkle Stufen, die tief, tief ins Innere der Erde führen. Aus dem Summton ist ein Dröhnen geworden, und urplötzlich steht er am Ufer eines unterirdischen Flusses, dessen schwarzes Wasser mit rasanter Geschwindigkeit durch ein Gesteinsmassiv unter seinem gut ausgestatteten Haus rauscht. Gerade als er hineinspringen will, wacht er erschrocken auf."

Das gut ausgestattete Haus, das sich irgendwann wie von selbst in separate "Zonen" für die Gattin und den Gatten aufgeteilt hat, liegt am Stadtrand von Manchester. Tim Parks ist in Manchester geboren und aufgewachsen, und obwohl er seit Jahrzehnten in Italien lebt, kommt man bei diesem Buch nicht an dem Verdacht vorbei, er habe mit seiner leicht gequälten, oft verwirrten, durch widersprüchliche Erfahrungen und Empfindungen herausgeforderten Hauptfigur Thomas Paige mehr gemeinsam als die Initialen und die englische Industriestadt als Bezugsort. Zumal es noch mehr offenkundige Parallelen gibt, etwa die Kindheit im anglikanischen Pfarrhaus und das schwierige Verhältnis zum strenggläubigen Vater. Davon handelt das Kapitel "Reverend", das Parks separat als Kurzgeschichte im New Yorker veröffentlicht hat.

Das Bemerkenswerteste an dem extrem entschleunigten Ehe-Countdown für Thomas & Mary ist allerdings, dass die Erzählperspektive zwar zeitweilig an Außenstehende abgegeben wird, wir ansonsten aber ausschließlich damit konfrontiert sind, wie Thomas die Dinge erlebt. Cathy, eine seiner zahlreichen jungen Geliebten, plappert ihre Schwärmerei und ihren Frust heraus; ein Tennispartner reportiert die obsessiven Spekulationen über den weiblichen Orgasmus, mit denen Thomas ihm auf den Wecker geht. Mark, der Sohn, bespielt eine Episode, Marys Freundin Julie eine andere, und ein einziges Mal werden wir über mehrere Seiten hinweg in dem Glauben gelassen, endlich Marys Version der Geschichte zu lesen - bis es heißt: "Thomas hielt inne. Nach einer langen Pause legte er den Stift beiseite. Das führte zu nichts. Mary blieb ihm ein vollkommenes Rätsel."

Das Interesse des Autors gilt also ganz eindeutig Thomas, dem männlichen Part. Aber das sollte ihm nicht als Frauenfeindlichkeit ausgelegt werden, denn er stellt ja zugleich die Egomanie und die Hilflosigkeit des Helden (die vielleicht seine eigene ist) ohne Erbarmen bloß. Er begleitet ihn ans Sterbebett seiner Mutter, zur Therapeutin, in die Vergangenheitserforschung, so unbeholfen sie auch sein mag. Und er baut eine liebevoll komische, entwaffnend versöhnliche Szene ein, in der Thomas' Eltern einander im Jenseits wiederbegegnen. Am Ende gibt es sogar einen kleinen Hoffnungsschimmer in Richtung "umgekehrte Liebesgeschichte". Aber bis dahin muss der Leser sich durch dieses vertrackte, leider nicht pausenlos kurzweilige Buch hindurchkämpfen. Wie durch das Leben.

© SZ vom 24.02.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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