Eltern gegen Kinderlose:Der Krieg der Köpfe: Norm und Normalität

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Familienmenschen und Singles, Kinderlose und Kinderhabende: Auch abseits der Fragen zu Kleinkindbetreuung und Rentensicherung gehjört der Streit um das Thema Kinder zu den jämmerlichsten Fehlleistungen der Gesellschaft.

GERHARD MATZIG

Paul Kirchhof, der im Falle eines Union-Wahlsiegs Finanzminister werden könnte, hat mancherlei Vision im Angebot. Doch weder sein revolutionärer Plan einer Einheitssteuer noch das umstürzlerische Ziel einer kapitalgedeckten Rentenversicherung scheinen der Öffentlichkeit echten Zündstoff zu bieten. Als aber nun ein hinreichend bekannter Satz Kirchhofs im Kielwasser des zwölften "Kinder- und Jugendberichts der Bundesregierung" in die öffentliche Wahrnehmung flutete, brach der Damm. Kirchhof sagte: "Zu einem erfüllten Leben gehören normalerweise Kinder."

(Foto: N/A)

Daraufhin, so die FAZ, "hallten eine lärmende Betretenheit sowie ein schriller Aufschrei durch Deutschland". Reinhard Bütikofer, Bundesvorsitzender der Grünen, bezeichnete Kirchhof als "neokonservativen Biedermeier-Typ" und "gesellschaftspolitischen Reaktionär", dessen Familienvorstellung "geistig aus dem 18. Jahrhundert stammt". Und die taz titelte den "Anti-Modernisten" herbei - als sei Kirchhof der Antichrist. Offenbar kann man in Deutschland keine noch so schlichte Ansicht zum Thema "Kinder" äußern, ohne den Furor der Empörung herauszufordern.

Kinderlose sollen sich nicht zur Familienpoltik äußern

Einige Kommentatoren verwiesen auf die "Norm", also auf Regelhaftigkeit und Vorschrift, die in Kirchhofs Rhetorik ("normalerweise") angelegt sei, um den verdächtig nach Mutterkreuz klingenden Satz zu diskreditieren. Regelgerechter und zugleich hysterischer kann man den allemal frei interpretierbaren Zusammenhang von Lebensglück und Kindern wohl kaum diskutieren. In einer Titelgeschichte zum Thema "Land ohne Kinder" erzählte der Stern kürzlich die Geschichte des "kinderlosen" Olaf Scholz, der namens seiner Partei, der SPD, vor drei Jahren "die Lufthoheit über die Kinderbetten" gegen die ebenso "kinderlose" Angela Merkel (CDU) verteidigen wollte. Kinderlose, so dürfte die Anführungszeichen-Ironie des Berichts über einen nicht weiter bemerkenswerten Schlagabtausch zu verstehen sein, sollen sich zur Familienpolitik nicht äußern. Das mediale Echo der Kinder-Diskussion ist oftmals so kindlich wie das Problem ausgewachsen.

Tatsächlich gehört der schon seit Jahren schwelende, jetzt aber bizarr eskalierende Grabenkrieg, den sich - historisch ohne Beispiel - Familienmenschen und Singles, Kinderlose und Kinderhabende auch abseits der Fragen zu Kleinkindbetreuung und Rentensicherung liefern, zu den jämmerlichsten Fehlleistungen der Gesellschaft. Das negativ besetzte, übrigens völlig unscharfe Wort "Singlegesellschaft" ist genau wie der negativ besetzte Begriff "Rabenmutter" eine deutsche Schöpfung. Andere Länder kennen auch Mütter oder Singles - nur sehen sie darin eher divergente Lebensentwürfe als feindliche Ideologien. Nirgendwo sonst wird der Verteilungskampf zwischen Eltern und Nicht-Eltern um Steuermittel, und nichts anderes meint das Ringen um die Lufthoheit über Kinderbetten, mit ähnlich harten Bandagen und intoleranten Ansichten geführt wie hierzulande.

Exoten im Seniorenstift

Die Kritiker Kirchhofs haben in einem Punkt Recht: Der Mann spricht von einer Normalität, die weder normal noch Norm ist: Kinder sind in Deutschland eine Anomalie. Resignativ heißt es dazu im Kinder- und Jugendbericht: Das Konstrukt Familie stellt für junge Menschen "keine attraktive Lebensform dar".

Die Folgen dieser gesellschaftlichen Optionalisierung sind dramatisch. Nicht aber, weil sie uns in die Vergangenheit des 18. Jahrhunderts führen könnten, sondern im Gegenteil: Weil sie uns die Zukunft verbauen. Das erklärt die Hysterie der Debatte, für die in der Schweizer Weltwoche in Anspielung auf den "Rinderwahnsinn" der denkwürdige Titel "Kinderwahnsinn" ersonnen wurde, aber nur zum Teil.

Der Krieg, den wir wahlweise gegen die Kinder- und Eltern-Feindlichkeit oder gegen den Kinderwahn und die entsprechende Nichteltern-Feindlichkeit führen, speist sich aus einer explosiven Mixtur von Rationalität und Emotionalität, von öffentlich wirksamen Volkswirtschafts-Kennziffern und privaten Lebensentwürfen. Dazu kommen im "Konstrukt" Familie, das eher ein Bedeutungsknäuel am Schnittpunkt gesellschaftlicher und individueller Sehnsuchtsvorstellungen ist, Mythos, Glaube und Kulturgeschichte. Die traditionslose Moderne, welche die taz so tapfer gegen Kirchhof verteidigen möchte, ist nirgendwo in Sicht.

Wobei zur eingebildeten Auseinandersetzung die tatsächliche Sprengkraft des demografischen Wandels gehört, den man allerdings schon vor 30 Jahren hätte zur Kenntnis nehmen können. Aber der Kurzschluss beispielsweise von Frank Schirrmachers staunenswertem Buch-Erfolg "Das Methusalem-Komplott" und einer Schrift wie "Deutschland, armes Kinderland - Wie die Ego-Gesellschaft unsere Zukunft verspielt" (Susanne Mayer), also das Wechselspiel zweier geradezu paradox einander sekundierender Plädoyers sowohl für eine neue Alters- wie für eine neue Kinderkultur, konnte nur vor apokalyptisch illuminierten Szenarien wirksam werden. Diese suggerieren eine Dringlichkeit, die es so gar nicht gibt. Demografische Entwicklungen kennen als kleinste Einheit lediglich die Generation - und sind auch mit noch so hektischen Weichenstellungen in der Gegenwart für die nahe Zukunft nicht zu beeindrucken.

Leben im Seniorenstift

Die Zahlen sind dennoch alles andere als fiktiv. Deutschland hat mit 8,7 Geburten auf 1000 Einwohner die niedrigste Geburtenrate in der EU. Einem Weltbankvergleich zufolge belegen wir Platz 185 auf einer Geburten-Skala, die nur 190 Staaten abbildet. Bereits heute leben in Deutschland gut sechs Millionen Kinder weniger als noch vor 30 Jahren. Im Jahr 2030 wird - unabhängig vom Zuzug - jeder dritte Deutsche 60 Jahre oder älter sein. Schon in wenigen Jahren werden wir also ein gigantisches Seniorenstift bewohnen, in dem Kinder aufgrund ihrer Exotik entweder beschützt oder bedroht sein werden.

Aus dieser Differenz entwickelt sich der große Graben zwischen Leuten, die Kinder haben, und solchen, die keine Kinder haben. Kinder sind schon heute keine Selbstverständlichkeit. In Zukunft werden sie es noch weniger sein. Das ist das Problem: Weder können sie uns allein ein persönliches Glück bedeuten, noch können sie das auch allgemeine Unglück der volkswirtschaftlichen Verwerfungen infolge eines allein den Zahlen nach unhaltbaren Generationenvertrags verantworten. Das Einzige, was unserer Gesellschaft aufhelfen könnte, wäre die Wiedererlangung jener Souveränität, die in der Existenz von Kindern eine allgemeine Banalität anerkennt. Stattdessen bemühen wir die Begriffe "Kinderfreundlichkeit" und "Kinderfeindlichkeit", um spezifische Grenzen zu ziehen.

Genau das tun jene Frontberichte, die jetzt so nervös zirkulieren. Im "Kinderwahnsinn"-Beitrag der Weltwoche werden selbstgefällige Eltern beschrieben, die an Sektenmitglieder erinnern: "Sie halten sich für bessere Menschen, belästigen ihr Umfeld mit einem militanten Enthusiasmus und geben Kinderlosen das Gefühl, sie seien Schwerverbrecher." Es mag solche Eltern geben - und gewiss werden sie durch das allgemeine Geheul über die Veralterung der Gesellschaft in ihrer Intoleranz den Kinderlosen gegenüber noch bestärkt. Aber sie sind nicht die Regel, sondern die Ausnahme. In Wahrheit haben die wenigsten Eltern die Muße, außer ihren Kindern auch noch Freunde und Kollegen zu erziehen.

Gutgelaunte Touran-Familie

Weniger klar sind dagegen andere Gewichtungen. Wenn gerundete Tischkanten, Steckdosenschutz und niedrige Klingelschilder schon ein Hinweis auf Kindgerechtigkeit sein könnten, dann wäre unser Land so kinderfreundlich wie nie zuvor. In Wahrheit stehen unsere Häuser und Städte den Kindern aber nur wie eh und je gegenüber: uninteressiert und bestenfalls erwachsenentauglich. Und das ist richtig so. Denn Kinder sind Kinder, sie wachsen heran und haben keine Vorstellung von jenem Minimundus, das ihnen Erwachsene mit Kindgerechtigkeitsdefizit aufzwängen wollen. Worauf es dagegen ankäme: Es Eltern möglich zu machen, auf ihrem eigenen Terrain Eltern zu sein - also in genau diesen Städten, Wohnungen und Büros.

"Insgesamt", so eine Allensbach-Studie, "bleiben Männer häufiger als Frauen, Deutsche häufiger als Ausländer, Ledige oder Geschiedene häufiger als Verheiratete und höher Gebildete häufiger als Personen mit niedrigerem Bildungsniveau kinderlos." 42 Prozent der deutschen Frauen mit Hochschulausbildung haben keine Kinder. In Schweden sind es acht Prozent. Das ist der eigentliche Skandal. Die Polarisierung von Kinderlosen und Kinderhabenden ist demnach, so steht es im aktuellen Kinder- und Jugendbericht, "vor allem ein Phänomen insbesondere des generativen Verhaltens von Hochqualifizierten". Zu lösen ist dieses Problem aber nicht durch Polarisierung und Grundsatzdebatten, sondern nur durch eine integrative Familienpolitik, die in der Lage sein sollte, das Konstrukt Familie nicht als einredefreies Glaubensbekenntnis, sondern als gesamtgesellschaftliche Konstruktion zu begreifen.

Die aktuelle "Touran"-Werbung von Volkswagen löst die Kinderfrage so: Am Strand steht der Touran, ein Van, also ein klassisches Familienvehikel, und davor posieren wie auf einem Familienferienbild fünf Menschen. Nur sind das nicht Papa, Mama und drei Kinder, sondern fünf gutgelaunte Mitglieder der Single-Generation. Einer ist auf die Knie gegangen, um den Sohn zu spielen. Eine hält Papas Hand wie ein braves Töchterchen. Und Mami wiegt nicht das Baby, sondern ein Wasserspielgerät in den Armen. Man wird dieses scheinbar provokante Familienimitat je nach Parteizugehörigkeit lustig oder gespenstisch finden. Es ist aber nicht die Abwesenheit echter Kinder, die verstört - sondern nur die Abwesenheit von Normalität.

© SZ vom 02.09.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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