Ein Extra für die Vereinzelten:Durch die Stadt orgeln

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Musik muss man live erleben: Der Organist Cameron Carpenter tritt in Berlin vor Alten- und Pflegeheimen auf, 35 Mal in vier Tagen, ganz ohne Show, ohne Bad im Applaus, für die Menschen.

Von Julia Spinola

Auf Plastikstühlen oder in ihren Rollstühlen sitzen etwa zwanzig Senioren mit Sicherheitsabstand auf der Terrasse der Agaplesion Bethanien-Diakonie in Berlin-Spandau. Weitere geschätzte dreißig warten auf ihren Balkonen oder vor geöffneten Fenstern auf die in Aussicht gestellte Abwechslung. Glücklich sehen sie nicht aus. "Eigentlich ist diese Musik nicht meins", bekennt eine gesund und rüstig erscheinende Dame in Jeans und Windjacke, "aber sonst passiert hier ja nichts. Vielleicht sprechen Sie lieber mit jemandem, der sich in der Klassik auskennt". Das apathisch-versteinerte Gesicht des Herrn neben ihr wirkt indes nicht so, als wolle er sich unterhalten. Vielleicht leidet er an Demenz, vielleicht haben ihn Medikamente sediert, vielleicht aber hat ihn das Leben in der Isolation auch einfach nur unglücklich und depressiv gemacht.

Auf der Ladefläche steht zwischen gewaltigen Boxen die dreimanualige Viscount-Orgel

Ein großer Lastwagen fährt vor, Techniker nehmen die Plane herunter und enthüllen die Ladefläche, auf der zwischen zwei gewaltigen Boxen eine dreimanualige elektronische Viscount-Orgel steht. Die Szenerie hat etwas vom Jahrmarktspektakel der fahrenden Orchestrion- oder Ein-Mann-Orchester-Künstler. Der Organist Cameron Carpenter klettert jedoch so unauffällig auf sein transportables Podium, dass eine Dame ungläubig fragt: "Ist er das?".

So schlicht und bescheiden, wie er in seinem schwarzem Alltagsoutfit aussieht, kennt man den schrillen Popstar der Orgel sonst nicht. Für den Auftritt in der Berliner Philharmonie, der an diesem Abend stattfinden sollte und coronabedingt abgesagt wurde, hätte er sich vermutlich exzentrisch in Szene gesetzt, mit selbst designtem Glitzer-Kostüm.

Stattdessen spielt er nun an vier aufeinanderfolgenden Tagen jeweils eine knappe halbe Stunde für die Bewohner sozialer Einrichtungen, vor Alten- und Pflegeheimen, aber auch vor Obdachlosenunterkünften. Bei 35 Auftritten insgesamt sind das bis zu neun Auftritte am Tag. Ein kräftezehrendes Pensum, aber "dafür sei er gemacht", lacht er.

Johann Sebastian Bachs Musik könne "Ordnung in deinen Verstand bringen" erklärt er seine Programmauswahl. Die Idee zu diesem Projekt kam vom Kulturmanager Christian Reichert. Carpenter ist sie ans Herz gewachsen. Bei diesen "Konzerten vor den Fenstern der Stadt", wie das vom Berliner Senat, von der Allianzstiftung und der Bürgerstiftung unterstützte Projekt heißt, konzentriert er sich ganz auf die Musik und die Menschen. Es gibt keine Show, kein Bad im Applaus, nur ein kurzes Lächeln ins Publikum.

"Meine Befriedigung als Musiker, ja der Grund, warum ich schon als Kind Musiker werden wollte", erzählt Carpenter nach dem Konzert, "sind tatsächlich die Menschen: für Menschen zu spielen, Menschen zuzuhören, das ist eine zutiefst befriedigende Erfahrung."

Live-Streams seien ein Notbehelf, an den man sich durch die Corona-Krise nicht gewöhnen dürfe, betont er. "Jahrelang haben wir unserem Publikum zurecht erklärt, dass man Musik live erleben muss. Jetzt können wir uns doch nicht sagen lassen, dass all dies nun durch Streaming ersetzt werden soll."

Eine Dame schließt die Augen, spielt die Goldberg-Variationen mit den Fingern in der Luft nach

Bachs Fuge in G-Dur BWV 577 schallt in einschüchternder Klangfülle und majestätischer Größe über den Hof, so dass man kurzzeitig bangt, ob die an Stille und Einsamkeit gewöhnten alten Menschen, die da so vereinzelt, in Distanz zueinander sitzen, nicht weggefegt würden von dieser übermächtigen Musik. Mit ausgewählten Stücken aus Bachs Goldberg-Variationen kommt eine Leichtigkeit in Carpenters Spiel, die sich in manch einem Gesicht der Zuhörer widerspiegelt. Hochvirtuos lässt er die Läufe perlen, spielt auf drei Manualen zugleich und wechselt, getrieben von seiner offenbar unbändigen Klangfantasie, beständig die Register. Auch wenn das Instrument auf dem Lastwagen natürlich nicht an die schier maßlosen Möglichkeiten seiner selbst entworfenen Lieblingsorgel heranreicht, der fünfmanualigen und über 200 Register verfügenden "International Touring Organ", ist dieses Spiel beeindruckend.

Eine Dame schließt beim Zuhören die Augen und spielt die Goldberg-Variationen mit ihren Fingern in der Luft nach. Sie hat sie früher auf dem Klavier gespielt, als sie noch in Südfrankreich wohnte und ihr Mann noch lebte, erzählt sie melancholisch nach dem Konzert. An der nächsten Station dirigiert eine Frau das gesamte Konzert vom Fenster aus mit. Eine Dame, die allein auf einer Bank sitzt, möchte wissen, wie "der junge Mann heißt". Es sei allerhand, wie er spielen könne, "obwohl er doch noch so jung" sei. Sie strahlt übers ganze Gesicht.

"Diese Menschen, für die wir jetzt spielen, sind schon in normalen Zeiten benachteiligt, was Konzertbesuche betrifft", erklärt Carpenter seine Motivation für dieses Projekt. "Jetzt sind sie besonders isoliert und verdienen definitiv ein paar kleine Extras. Es ist wirklich nur ein sehr kleines Extra, das ich ihnen biete. Aber wenn es mir gelänge, ihnen vielleicht einen ihrer Tage ein bisschen besser zu machen mit dieser halben Stunde, wäre ich sehr glücklich."

Wie schmerzlich man live gespielte Konzerte in den letzten Wochen vermisst hat, erlebt man an diesem Nachmittag auch als Kritiker. Gerade in einer Zeit, die den Menschen stark auf sich selbst zurückwirft, kann die Musik als Seelennahrung der Selbstvergewisserung dienen. Zu hoffen ist daher, dass Cameron Carpenters Projekt möglichst viele Nachahmer zu ähnlichen Initiativen anregen wird.

© SZ vom 02.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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