Ein Dokument:Keiner rammt wie Alois Stiebl

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Für die "Süddeutsche Zeitung" schrieb Wolfram Siebeck 1969 über Bauarbeiten - im Stil einer Musikkritik.

Von Wolfram Siebeck

Wolfram Siebeck war nicht nur der Gastrokritiker, der die Esskultur Deutschlands prägte, er führte die Feder auch mit feiner Ironie . Das bewies er mit einem Bericht über Bauarbeiten an der Münchner Leopoldstraße, den er im Stil der Musikkritiken von Joachim Kaiser verfasste. Erschienen ist dieser Text am 25. Oktober 1969 in der Süddeutschen Zeitung, auf der "Letzten Seite", der Humorseite der Wochenendausgabe.

Auf der oberen Leopoldstraße, wo kulturelle Veranstaltungen bisher nur im Kino stattfanden, eröffnete Bayerns Kultusminister Huber a. G. vor einem festlich-erwartungsvoll gestimmten Publikum Münchens neueste Baustelle.

Man wusste, dass der größte Teil des Ensembles aus Italien verpflichtet worden war, dass im Löffelbagger der Pasinger Sepp Holzer sitzen würde: man erwartete also eine Darbietung von Rang. Dass es dann das phonetische Ereignis des Jahres werden sollte, war Alois Stiebl und seiner Explosionsramme zu danken.

Der kann in die Ramme hineingreifen, dass es groß und herrlich metallisch und präzise klingt, der lässt Akkorde leben, der hat Sinn für ein Fortissimo!

Das Staunen, das unvermittelte Betroffensein ereignete sich sofort bei den ersten Takten. Jenes noble, beseelte, fast schmerzhafte Staccato, das Stiebl aus dem Nichts, beziehungsweise aus seinem herrlichen Instrument holte, war Phon in höchster Reinheit. Er rammt nicht nur schön, er rammt auch musikalisch genau, gliedert klug, artikuliert zugleich logisch und süffig. Virtuos, federnd, fabelhaft!

Das Publikum, durch keinen Bauzaun vom Solisten getrennt, klatscht sich denn auch den Straßenstaub begeistert aus den Kleidern.

Der Auftritt des Luigi Bozetto aus Neapel gestaltete sich womöglich noch spektakulärer. Was er mit dem Pressluftbohrer anstellte, grenzte an Hexerei. Mit traumhafter Sicherheit fand er die Sprungstellen im Beton. Jedoch: Akkord-Ballungen schon im Ansatz und die für ihn so typische kokett-lockere Haltung (offenes Hemd auch im Winter!), das ist Showmanship, ganz klar.

Nach der Pause machte die Schürfkübelraupe den ersten Satz zusammen mit einer zum Kaiser-Joachim-Platz fahrenden Straßenbahn, die aber viel zu verhalten blieb, um sich gegen Gustl Schuler auf der Raupe durchzusetzen. Dem gelang es mit dem Planierschild, auch harte Brocken so gewichtlos wie möglich zu nehmen. Und auf der Leopoldstraße gibt es viele harte Brocken.

Das erfuhr dann im Finale der große Sepp Holzer. Die an dieser Stelle im Pflaster steckenden Widerstände brach er mit geradezu unbarocker Eleganz: doch was er im Sommer am Marienplatz noch mit blühendem Ausdruck füllte, das baggerte er diesmal verdrossen-routiniert. Die Grabzähne des Baggerlöffels schienen mir eine Spur zu steil, und der aufgeweichte Boden inspirierte ihn zu nichts Besserem als zu aufgeweichtem Rhythmus, was zwangsläufig zu verschmierten Figuren führte.

Trotzdem überwältigender Jubel bei Zuschauern und Anwohnern.

© SZ vom 09.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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