Editorial:Klangspiele

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Beim 9. Literaturfest München experimentiert Jan Wagner mit der Sprache. Er lässt Lyrik im Original vorlesen, die Übersetzung gibt es nur zu sehen.

Von Felix Stephan

Dass die Übersetzung die Sprache Europas sei, das formulierte Umberto Eco schon im Jahre 1993. In demselben Jahr also, in dem der europäische Binnenmarkt vollendet wurde, der bis heute Bewegungsfreiheit für Waren, Dienstleistungen, Personen und Kapital in der Europäischen Union garantiert. Zwischen Übersetzungen und europäischer Integration könnte also ein Zusammenhang bestehen, das legt auch der Jahresbericht des Übersetzerbüros der Europäischen Kommission nahe: Allein im Jahr 2017 hat man dort über zwei Millionen Seiten in alle Sprachen der Europäischen Union übersetzt und dabei, wie mit einigem Stolz gleich im ersten Absatz des Berichts vermerkt ist, 99,2 Prozent der Abgabetermine eingehalten. Selbst die Übersetzungen ins Irische hätten deutlich zugenommen, was deshalb nötig ist, weil das Irische in Irland nach wie vor eine offizielle Landessprache ist, obwohl es nur von einer Handvoll Iren regelmäßig benutzt wird.

Dass es nun auch in München ein paar Tage zugeht wie in dem europäischen Babel in Brüssel und Sprachen wie das Irische hier zu ihrem Recht kommen, ist das Verdienst des deutschen Schriftstellers Jan Wagner. Für das Literaturfest hat er zahlreiche Lyriker aus Europa gebeten, ihre Texte in München im Original zu lesen. Die deutsche Übersetzung wird während der Lesung lediglich projiziert und damit vielleicht der wichtigsten Eigenschaft der Lyrik beraubt, deren Gattungsbezeichnung sich von der Lyra herleitet: des Klangs.

Übersetzer entscheiden andauernd, ob sie sinntreu oder lexikalisch übertragen

Die Versuchsanordnung wirft ein Schlaglicht auf das Äquivalenzproblem des Übersetzens: Oft verlieren Wendungen oder Begriffe bei der Übertragung von einer Sprache in die andere ihre metaphorische Dimension und man muss sich entscheiden zwischen einer sinntreuen oder wirkungsgleichen Übersetzung und einer lexikalischen. Einfaches Beispiel: Wenn es im Französischen heißt "Arrête ton cinéma!", wäre die lexikalische Übersetzung "Hör auf mit dem Kino!". Sinntreu wäre aber: "Hör auf mit dem Theater!". Und weil Übersetzer diese Entscheidungen im Grunde ununterbrochen treffen müssen, ist es eigentlich ein Wunder, dass sich die Abgeordneten in Brüssel überhaupt verstehen.

Zumal in der Sprachphilosophie immer noch der Gedanke eine Rolle spielt, dass wir von der Wirklichkeit nur das wahrnehmen können, wofür wir eine Sprache haben. Der Gedanke kommt schon bei Ludwig Wittgenstein vor, bekannt geworden ist er aber als Sapir-Whorf-Hypothese, benannt nach den Linguisten Edward Sapir und Benjamin Whorf. Wenn es also im Japanischen ein Wort für warmes Wasser und ein Wort für kaltes Wasser gibt, aber kein Wort für neutrales Wasser, dann kommt Wasser, das weder warm noch kalt ist, nicht nur in der Sprache nicht vor, sondern ebenso wenig in der japanischen Wirklichkeit. Heute ist die Theorie eher umstritten, sie würde aber einige Missverständnisse erklären - zwischen europäischen Staaten, aber auch zwischen einzelnen Menschen. Im Falle der Lyrik ist der Schwierigkeitsgrad sogar noch einmal etwas erhöht, schließlich geht es hier häufig darum, für einen sinnlichen Eindruck eine genuin-äquivalente sprachliche Form zu entwickeln, die ihre Kraft eher aus der Eigengesetzlichkeit der Kunst schöpft und es auf Verständlichkeit erst in zweiter Linie abgesehen hat.

Das könnte man jedenfalls alles bedenken, wenn jetzt beim Literaturfest München Gedichte auf Irisch, Sorbisch oder Ladinisch vorgetragen und gleichzeitig in deutscher Übersetzung auf die Wand projiziert werden. Man könnte überlegen, wie viel von der ursprünglichen sinnlichen Erfahrung des Autors in der deutschen Übersetzung eigentlich ankommen kann, nachdem sie all diese sprachliche Umwandlungsprozesse durchlaufen hat.

Man könnte sich aber auch einfach auf den Klang konzentrieren, den Klang der Sprache und den Klang des Gedichts, und die Kommunikationsfunktion der Sprache einmal kurz beiseite lassen.

© SZ vom 08.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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