DVD: Kindergesichter, (1923/25):Stumm in die Lawine

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Nein, hier soll nicht mit einem Juwel der Filmgeschichte renommiert werden. Es gilt, einen großartigen Film zu empfehlen, der auch dann noch großartig ist, wenn man "Weiterbildung" und "Pflichtprogramm" aus dem Kopf verbannt: Jacques Feyders "Kindergesichter" aus dem Jahr 1925.

Tobias Kniebe

Vorbeugend gilt es einen Verdacht auszuräumen: Nein, hier soll nicht mit einem obskuren Juwel der Filmgeschichte renommiert werden, das außer ein paar Filmkritikern keiner kennt oder kennen müsste. Und nein, es soll auch überhaupt nicht um einen Akt des störrischen Widerstands gegen Hollywood, den Massengeschmack und laute DVD-Knaller im THX-Format gehen. Es gilt einfach nur, einen großartigen Film zu empfehlen, der auch dann noch großartig ist, wenn man Assoziationen wie ¸¸Filmgeschichte", ¸¸Weiterbildung" und ¸¸Pflichtprogramm" bitteschön sofort aus dem Kopf verbannt. ¸¸Visages d"enfants - Kindergesichter", in der Schweiz gedreht von dem belgischen Regisseur Jacques Feyder, hat die Kraft, jedes Publikum zu bewegen - und zwar so, als wäre er nicht vor mehr als achtzig Jahren entstanden, sondern heute. Und genauso faszinierend sehen die Bilder aus.

Schauspieler von fast schockierender Modernität, die auf jegliche Ausrufezeichen in ihrer Performance verzichten. (Foto: Foto: Arte)

Wer sich überhaupt noch an Stummfilme heranwagt, hat sich ja beispielsweise damit abgefunden, dramatisch übersteigerte Theatralik zu sehen, grell geschminkte Gesichter und eine längst nicht mehr verständliche Schule der Schauspielkunst, die man aber als zeittypisch und daher unvermeidlich hinnimmt. Welch ein Irrtum! In ¸¸Kindergesichter" sieht man Schauspieler von fast schockierender Modernität, die auf jegliche Ausrufezeichen in ihrer Performance verzichten: Erwachsene, die ihre Emotionen oft gar nicht oder nur verhalten zeigen, Kinder, die wie wirkliche Kinder lachen, zanken, schmollen und träumen und mit einer Liebe und Sicherheit inszeniert sind, die seitdem auch nicht mehr übertroffen wurde. Wer beispielsweise glaubt, François Truffaut habe mit ¸¸Sie küssten und sie schlugen ihn" Neuland betreten, ein Kind erstmals ganz ernst genommen und seine Sicht der Welt ins Zentrum gerückt, der muss nach diesem Film wohl umdenken: Der wahre Pionier dieses Kinos ist Jacques Feyder, und er hatte mit Jean Forest einen jungen Protagonisten, der mindestens so unvergesslich agiert wie Jean-Pierre Léaud bei Truffaut.

Auch der Titel, der ein wenig süßlich klingt und nach dem Billigtrick, zur Erzeugung von Emotionen kurz auf ein Kindergesicht zu schneiden, führt in die Irre. Es geht um einen Jungen in einem Bergdorf in den Walliser Alpen, der um seine verstorbene Mutter trauert, der nicht damit zurechtkommt, dass sein Vater wieder heiratet, der sein Zimmer für eine neue Stiefschwester räumen muss und diese fortan hasst. Es geht um die Art und Weise, wie Kinder ihre eigene Welt schaffen, zum Beispiel auf einer Insel im Bach, wie sie diese Welt gegen Eindringlinge verteidigen und wie grausam sie dabei sein können. Es geht um die ersten hinterhältigen Ideen, die ersten Lügen eines jungen Bewusstseins - und wie so eine Lüge in einer dramatischen Lawinennacht ganz katastrophale Folgen

hat: Die Stiefschwester, vom Bruder auf eine falsche Fährte gelockt, verschwindet im Schnee - und das Einzige, was sie retten könnte, wäre sein erwachendes Gewissen . . .

Ganz abgesehen davon, dass man dieser einfachen und doch dramatischen Geschichte kaum entkommen kann, ist der Film noch in anderer Hinsicht bemerkenswert. Er behandelt die spektakuläre Berglandschaft des Wallis wie den selbstverständlichsten Hintergrund der Welt. Die Bilder sind oft von dichter, leuchtender Schönheit, doch diese Schönheit wird niemals ausgestellt. Jedem Regisseur würde man verzeihen, wenn er den Fokus kurz von seinen Darstellern und seiner Geschichte nähme, um beispielsweise einen spektakulären Gipfel in den Blick zu rücken - und fast jeder würde es tun. Aber nicht Feyder! Er arbeitet mit Léonce-Henri Burel, einem führenden Kamerapionier der Zeit, an ganz anderen Dingen: Zum Beispiel der ersten Nachtszene, die wirklich von Fackeln erleuchtet ist, oder an einer Kamerafahrt aus der Perspektive einer anrollenden Lawine. Kurz gesagt: Wer sich überhaupt noch an Stummfilme heranwagt, sollte ¸¸Kindergesichter" auf keinen Fall verpassen.

Kindergesichter (Visages d"enfants), 1923/25, von Jacques Feyder. Arte Edition bei Absolut Medien (www.absolutmedien.de)

© Quelle: Süddeutsche Zeitung Nr.31, Dienstag, den 07. Februar 2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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