"Drei Nächte, drei Tage":Auf der Insel 

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Beginnend mit diesem polyfonen Roman wird das Werk der Kanadierin Marie-Claire Blais endlich auch auf Deutsch zugänglich.

Von Ulrich Rüdenauer

Marie-Claire Blais: Drei Nächte, drei Tage. Aus dem Französischen von Nicola Denis. Suhrkamp, Berlin 2020. 391 Seiten, 22 Euro. (Foto: N/A)

Die 1939 in Québec geborene Marie-Claire Blais meint es ernst mit der Moderne. Man erkennt es schon am furchteinflößenden Satzbild: Knapp vierhundert Seiten ist ihr Roman "Drei Nächte, drei Tage" lang, und kein einziger Absatz darin, geschweige denn eine Kapiteleinteilung. Erst nach zwanzig Seiten stößt man auf einen haltgebenden Punkt. Herrje, Punkte - im gesamten Text finden sich davon lediglich zwei Dutzend! Alles fließt dahin und ineinander, höchstens Kommata markieren die Übergänge von einer Figur zur anderen, von Szene zu Szene, von Ort zu Ort, von der Gegenwart in die Vergangenheit.

Der Roman ist ein einziger Rausch, "Soifs" lautet der Titel im Orginal

Ein Zitat aus Virginia Woolfs "Die Wellen" steht dieser schönen Überforderung voran: "Let me now raise my song of glory. Heaven be praised for solitude. Let me be alone." Mehr als der Inhalt, ist es die Form von "The Waves", die Blais fasziniert haben dürfte. Über ihren wohl avanciertesten Roman sagte Woolf, sie sei dem Rhythmus gefolgt, nicht der Handlung. Das Buch stehe völlig im Widerspruch zur Tradition der Fiktion, "und ich suche die ganze Zeit nach einem Seil, das ich dem Leser zuwerfen könnte". Blais wiederum steht in der Tradition der klassischen Moderne, von Autorinnen und Autoren wie Woolf oder Faulkner; sie wirft zwar ziemlich viele Seile aus, aber die müssen erst einmal aufgefangen und verknüpft werden.

Blais' "Drei Nächte, drei Tage", das im Original 1995 erschienen ist und den Auftakt zu einem Zyklus bildet, ist also ein einziger Rausch. "Soifs" lautet der französische Originaltitel. Dürstend sind die Protagonisten, voll fiebriger Unruhe, die besonders gedeiht in einer von Anfang an spürbaren Atmosphäre der Vergänglichkeit: Der Roman spielt auf einer idyllischen karibischen Insel, die keinen Namen trägt, aber Ähnlichkeit mit Key West hat - jener US-amerikanischen Inselstadt im Golf von Mexiko, wo Marie-Claire Blais seit Jahrzehnten lebt. Es ist drückend heiß, das Ende des 20. Jahrhunderts rückt näher; eine glühende Euphorie mischt sich mit etwas Apokalyptischem und Undurchschaubarem.

Es findet ein Fest zu Ehren des kleinen Vincent statt, zehn Tage alt, kränklich, unschuldig, seine Atmung setzt zuweilen aus, aber nun schläft er sanft, während sich im Garten unter Mandelbäumen eine kunterbunte Gesellschaft versammelt hat. Die Eltern Melanie und Daniel sind die Gastgeber, sie hat politische Ambitionen (zumindest möchte ihre Mutter das glauben), er schreibt an einem überbordenden Roman. Der ältere Sohn Samuel besitzt eine theatralische Ader, er singt für die Gäste, wird umschwärmt, selbst himmelt er den zwölf Jahre älteren Julio an, einen Flüchtling, dessen Familie beim Versuch, die USA zu erreichen, umgekommen ist. Melanie und Daniel kümmern sich um diesen Jungen, wie überhaupt das Milieu aus Künstlern und Philanthropen sich mit der Gönnerhaftigkeit der liberalen Elite gegen Ungleichheit und Elend einsetzt, gegen die "Geißeln von Rassismus, Sexismus und Drogen", wie es Melanies Mutter ausdrückt. Diese Geißeln sind allgegenwärtig; immer wieder blitzt etwas auf von der Gewalt und dem Horror des rassistischen Südens, von sexuellem Missbrauch und den Risiken der Lust, von Begehren und der kühlen Macht, die dem Begehrten zufällt.

Die Figuren lassen sich sortieren nach ihrer Nähe und Ferne zum Tod

Renata, Melanies Tante, kennt sich mit all dem aus. Sie ist das heimliche Zentrum des Romans, eine Anwältin, mit einem Richter liiert, ehemals mit einem exzentrischen österreichischen Komponisten verheiratet. Sie setzt sich für straffällige Jugendliche ein und ist weit davon entfernt, ein beständiges Leben zu führen. Ihr Blick auf die Welt ist von einer unstillbaren Sehnsucht geprägt, und dass sie eine lebensbedrohliche Krankheit hatte, scheint diese Lebensgier nur noch zu steigern.

Sie ist das genaue Gegenteil ihrer Schwester. Immer wieder, sagt die vorwurfsvoll, fange Renata neu an, als wäre sie noch jung; bei jeder Begegnung werde sie jünger, ein Ärgernis. Verschiedene weibliche Lebensmodelle prallen hier aufeinander, denn die aus dem Begehrtsein ihr Selbstbild bastelnde Renata sieht sich zugleich als Feministin, als Kämpferin. In Melanie erkennt sie eine Schwester im Geiste, "eine Frau wurde nicht geboren, um zu überdauern, um Fuß zu fassen, anders als ihr Mann, als ihre Söhne, war Melanie nicht von dauerhafter Beständigkeit auf dieser Erde, wie Renata war sie ein Wesen mit Bruchstellen, teilte das gleiche Dasein, die gleiche Unterwerfung, auch wenn sie Leben geschenkt hatte, und Renata empfand für Melanie jene Zärtlichkeit, die manchmal Tiere einander bezeigen, unvermittelt sagte sie, ach, liebe Melanie, als sie sah, wie Melanies Hand sachte über Vincents Stirn, seine Augen, seinen Haarflaum strich, denn Melanie verriet die inwendige Bruchstelle".

Bei diesem Fest treffen sich alle, die ihre Bruchstellen zu verbergen suchen. Um den paradiesischen Garten herum drapiert sich das Personal aus Verzweifelten, Bohemiens, Künstlern, an den Rändern streifen die Verlorenen umher, Gauner, Aufgegebene, Schattenwesen, die wir nur schemenhaft wahrnehmen können. Es ist imposant, wie Marie-Claire Blais in ihren langen Sätzen unvermittelt die Perspektive wechselt und so einen polyfonen Chor anheben lässt. Die Innenwelten der Figuren gehen ineinander über, obwohl ihre Herkunft, ihre Kränkungen und Fantasien sie eigentlich trennen. Manche bewegen sich gerade erst in ihr Leben hinein wie in die Unvorhersehbarkeit einer Festnacht, andere sehen "schwarze Segelschiffe" am Horizont als Vorahnung des Endes.

Vielleicht ließen sich die Figuren sortieren nach ihrer Nähe und Ferne zum Tod: Jacques, der Kafka-Experte, der sich an seinen jungen Geliebten erinnert, den er verstoßen hat, wird schon auf den ersten Seiten sterben. Renata, die für einen Augenblick durch ihre Krankheit ins Nichts geblickt hat. Daniel, der ganz am Anfang seines Weges steht und von Jean-Mathieu, einem anderen Schriftsteller, mit der Skepsis des Älteren betrachtet wird: "wir werden gehen, Daniel wird uns ersetzen, und ist das Wesentliche am Leben nicht das Träumen, der Traum, Jean-Mathieu würde im Senat der Unsterblichen sitzen und Gertrude Stein sehen, zwischen Vergil und Dante". Eine göttliche Komödie ist das, ein großformatiges Sittengemälde einer Zeit, die schon die Krisen unserer Gegenwart in sich birgt. Wir Leser sind glücklich Gestrandete auf dieser Romaninsel der Unglückseligen.

Wer von dieser faszinierenden, formbewussten Autorin bislang noch nichts gehört hat, muss nicht unangenehm berührt sein. Hierzulande ist sie, obwohl Blais in ihrer Heimat Kanada knapp drei Dutzend Bücher veröffentlicht hat, unbekannt. In den sechziger Jahren erschien bei Kiepenheuer & Witsch der Roman "Schwarze Winter"; in der von Lothar Baier und Pierre Filion bei Wunderhorn herausgegebenen Anthologie "Anders schreibendes Amerika" wurde sie als Teil der sehr besonderen, französischsprachigen Literaturszene Québecs vorgestellt. Das war's auf Deutsch. Ihr Debüt "La Belle Bête" kam 1959 heraus, da war die aus dem Arbeitermilieu stammende Blais gerade zwanzig - der Roman hatte etwas Skandalöses und brachte ihr unter anderem die Bewunderung des Autors und Großkritikers Edmund Wilson ein, der sie förderte. Mit "Drei Nächte, drei Tage" hatte sie 1995 ein neues Kapitel in ihrer langen Schreibgeschichte aufgeschlagen: Ein gewaltiges, vielstimmiges, von Nicola Denis nun brillant übertragenes Werk, dem hoffentlich weitere Bücher des "Soifs"-Zyklus folgen.

© SZ vom 13.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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