Dorfroman:Betonierte Plazenta

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Helena Adler: Die Infantin trägt den Scheitel links. Roman. Jung & Jung, Salzburg 2020. 188 Seiten, 20 Euro. (Foto: N/A)

Heimat kann ein grotesker Ort sein und lässt einen doch nicht los: "Die Infantin trägt den Scheitel links" heißt der autobiografisch grundierte Provinzroman der österreichischen Autorin Helena Adler.

Von Kristina Maidt-Zinke

Der Dorfroman hat seit Jahren Hochkonjunktur. Am besten verkauft er sich in seiner charmant idyllisierenden oder mild elegischen Ausprägung, wie man an den Bestsellererfolgen von Mariana Leky und Dörte Hansen sieht. Der Anti-Heimatroman gilt als österreichische Erfindung der Siebzigerjahre des vorigen Jahrhunderts und steht im Ruf, ein schwermütiges bis finsteres Genre zu sein, das dann wiederum seine eigenen Parodien hervorbrachte. Den Debütroman von Helena Adler, die 1983 in Oberndorf bei Salzburg "in einem Opel Kadett" zur Welt kam und später unter anderem Malerei am Mozarteum studierte, müsste man wohl zur Anti-Heimat-Literatur zählen, weil er in denkbar krasser Form mit einer dörflichen Herkunft, einer bäuerlichen Sippe und den Schrecken des Landlebens abrechnet. Die Parodie dazu liefert die Autorin aber gleich mit, denn in ihrer Beschimpfung des ruralen Milieus und des familiären Gruselkabinetts gehen Zorn und Komik eine so innige Verbindung ein, dass man das Ganze ebenso gut für eine satirische Erfindung halten könnte.

Ist es aber nicht. Helena Adler, die in Wirklichkeit anders heißt, hat eine Menge von dem, was sie feuerwerksartig aus ihrer Erzählkanone schießt, selbst erlebt. Dass wir es hier mit einer sehr speziellen, zumindest interessant gebrochenen Dorfbiografie zu tun haben, lässt der Titel ahnen: "Die Infantin trägt den Scheitel links". Politische Implikationen kann man sich abschminken, feudalistische Nostalgie ebenfalls, aber eine Prise Größenwahn gesteht die Autorin sich ausdrücklich zu.

Die ersten beiden Sätze des Romans, der Schilderung eines familiären "Nachtmahls" vorangestellt, rücken die Szene geradewegs in die Kunstgeschichte ein: "Nehmen Sie ein Gemälde von Pieter Bruegel. Nun animieren Sie es." Damit nicht genug: Die einundzwanzig Kapitel sind überschrieben mit den Titeln bedeutender Bildwerke zwischen Renaissance und Moderne, und zur Bruegel-Fantasie darf man "Home Sweet Home" assoziieren, einen mit Gasmasken gefüllten Objektkasten des französisch-amerikanischen Künstlers Arman, der den "Nouveau Réalisme" mitbegründete.

Die groteske Zuspitzung von Bauernhof-Klischees gehört zu Adlers liebsten Stilmitteln.

Wer die Latte so hoch hängt, riskiert den Absturz. Doch Helena Adler löst ein, was ihr künstlerischer Anspruch verheißt, indem sie Worte mal wie Fingerfarben, mal wie einen kräftigen Zeichenstift benutzt. Die Familie, Urgroßeltern, Eltern und die anfangs sechsjährige Erzählerin mit ihren beiden bösartigen Schwestern, hat sich bei Gewitter zum Gebet versammelt: "Ich vergrabe das Gesicht in meinem rotzigen Ärmel, und als ich mit meinen Kinderaugen wieder aufblicke, fotografiert der Blitz von draußen herein. Ein Bild mit Dämonen und Zyklopen, Vogelscheuchen, Menschenfressern und anderen gemeinen Teufeln. Das Beten wird zu einem Exorzismus, den sie an sich selbst exerzieren. Das flackernde Licht verformt ihre Gesichter und malt ihnen Falten und Runzeln aus vorgeschichtlicher Zeit auf die Stirnen. Niemals ist das meine Familie, ich bin allein auf meinem Heimatplaneten."

Überzeichnung, Übertreibung und die groteske Zuspitzung von Bauernhof-Klischees sind Adlers liebste Stilmittel, und sie lässt die Heldin mit ihren Einsamkeits- und Fremdheitsgefühlen zwischen Stalldunst, Schweineblut und Weihrauchduft hemmungslos kokettieren. Ein "gewöhnliches" Bauernmädchen ist die Kleine allerdings nicht: Der Vater hängt dem Biolandbau in seiner spirituell gefärbten Variante an, die Mutter praktiziert ein exaltiertes Christentum mit viel Musik, die ehrgeizigen Zwillingsschwestern betreiben Eiskunstlauf. Die Urgroßeltern, deren Haus und Hof alle gemeinsam bewohnen, werden in liebevoll skurrilen Beschreibungen porträtiert: "Das sind Charakterköpfe mit verbügelten Gesichtern, noch nicht ganz abgestorbene Seelen. Sie sind bodenständig geblieben, damit wir abheben konnten, der Vater in die Esoterik, die Mutter mit den Engeln, die Schwestern mit ihren Schlittschuhen und ich mit dem Verstand." Und weiter heißt es: "Sie choreografieren mein Leben, sodass ich mich sicher fühle, dass es richtig ist, wie ich meinen Malzkaffee trinke, dass ich den Kindergarten verweigere oder im Deutschaufsatz unser Haus mit einem Schiff vergleiche, dessen Segel aus den alten Unterhosen des Vaters besteht. Sie bremsen mich zu völliger Ruhe und bewegen mich zum Aufruhr."

Das klingt doch wieder nach Idyll, aber die aufrührerische Neigung bricht sich früh Bahn. So kommt es, dass das Kind halb unachtsam, halb mutwillig den Hof abfackelt, was von den Eltern, auch versicherungstechnisch bedingt, mit Fassung aufgenommen wird, aber vier Jahre äußerst beengten Wohnens nach sich zieht, Flöhe und Wanzen inbegriffen. Dafür weitet sich der Erzählradius der kleinen "Satansbrut", wie man sie fortan nennt, ins dörfliche Umfeld und auf die problematische Verwandtschaft aus. Blasser wird das Genrebild, wenn die Heldin heranwächst und ihr Rebellentum im Kreise einer verwilderten Dorfjugend pflegt. Am Ende dann großes Drama im Schnelldurchgang: Vertreibung aus dem Paradies, Krieg zwischen den Eltern, Knast für den Vater, Verlust des wiedererbauten Hofs, der elegisch beklagt wird: "Man hat mir meine Heimat genommen und meine Kindheit dazu. Der Bauernhof war mein Jerusalem, eine Urheimat, betonierte Plazenta." Rettung entspringt, wie in einem veritablen Heimatroman, dem Wunder der Mutterschaft, das die Infantin entwaffnet. Die Autorin lebt heute mit Mann und Kind in der Nachbargemeinde ihres Herkunftsortes. Aber den Scheitel scheint sie immer noch links zu tragen, was auf weitere schräge Werke hoffen lässt.

© SZ vom 06.06.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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