Dokumentarkino:Die Nagelbombe und die vernagelte Justiz

Lesezeit: 2 min

"Sie hielten uns immer nur für die Täter": Ein Film über das NSU-Attentat in Köln.

Von Rainer Gansera

Um einen beschämenden Ermittler-Skandal geht es in dieser Dokumentation von Andreas Maus, um einen eklatanten Fall "struktureller Fremdenfeindlichkeit", bei dem sich Ressentiments und Vorurteile in die Logik amtlichen Vorgehens verwandeln. Wie kam es dazu? In der Keupstraße, einer quirligen Geschäftsstraße im Kölner Stadtteil Mühlheim, leben und arbeiten Familien überwiegend türkischer Herkunft. Sie betreiben hier die verschiedensten Restaurants und Geschäfte: Bäckerei, Konditorei, Werkstatt für Musikinstrumente, CD-Shop, Juweliergeschäft. Am 9. Juli 2004 explodiert vor dem "Kuaför"-Friseursalon eine mit 702 Zimmermannsnägeln gespickte Bombe. Ein infamer Anschlag, der ein verheerendes Blutbad anrichten soll. Wie durch ein Wunder wird kein Mensch getötet. Die Bilanz verzeichnet 22 zum Teil schwer verletzte Opfer.

Die Polizei ermittelte sieben Jahre hartnäckig und ausschließlich in Richtung "kriminelles Milieu"

Kurze Zeit danach erklärt Innenminister Otto Schily: "Die Erkenntnisse, die unsere Sicherheitsbehörden bisher gewonnen haben, deuten nicht auf einen terroristischen Hintergrund, sondern auf ein kriminelles Milieu." Sieben Jahre später stellt sich heraus, dass dieser Nagelbombenanschlag vor dem Geschäft des Friseurs Özcan Yildirim zur Mord- und Attentat-Serie des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) zu zählen ist. Der Skandal: in den sieben Jahren bis zu dieser Entdeckung geht die Polizei den Vermutungen auf einen "terroristischen Hintergrund" niemals nach. Sie ermittelt hartnäckig und bis ins Irrwitzige ausschließlich in Richtung "kriminelles Milieu". Sie will die Opfer als Täter sehen.

Von Anfang an. Schon am Tatort lautet die erste polizeiliche Frage an den Friseur: "Sind Sie gut versichert?", suggeriert also Versicherungsbetrug. Abdulla Özkan, der beim Anschlag im Friseursalon stand und schwer verletzt wurde, erzählt: "Wir wurden nicht wie Zeugen vernommen. Man hat uns nicht gefragt, ob wir was brauchen, ob es uns medizinisch gut geht, wir waren Verdächtige - und das wurde knallhart durchgezogen!" Regisseur Andreas Maus gibt den Opfern Stimme und Gesicht. Er sucht und komponiert seine Bilder mit Bedacht und Anteilnahme: Archivaufnahmen des Anschlags, die wie gespenstischer Horror erscheinen, atmosphärische Impressionen der Keupstraße, Statements, und er lässt Schauspieler aus den Verhörprotokollen zitieren.

Diese bühnenhaft arrangierten Szenen sind ein formal verblüffendes Verfahren, das zuerst den Eindruck experimenteller Extravaganz macht, aber detailgenauer Wahrheitsfindung dient. Sie schaffen Distanz und lassen die demütigenden Verhörstrategien mit analytischer Schärfe hervortreten. Überflüssig sind da manche raunend-suggestiven Kommentarsätze. Das Beleidigende der Verdächtigungen wird offensichtlich, wenn die Ermittler immer nur ihr vorgefasstes Bild bestätigen wollen, dass der Anschlag kriminellen Machenschaften im Migrantenmilieu zuzurechnen sei. Über Jahre hinweg stundenlange Verhöre, die das Privatleben der Opfer und das soziale Miteinander in der Keupstraße vergiften.

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Als äußerer Anlass und erzählerischer Rahmen wird das "Birlikte"-Straßenfest 2014 zum 10. Jahrestag des Anschlags präsentiert. Ein großes Fest des solidarischen "Zusammenstehens" mit siebzigtausend Teilnehmern. Wenn dann aber, begleitet von einem aufgeregten Schwarm an Fotografen und Fernsehleuten, der Bundespräsident erscheint, sich im "Kuaför"-Laden für Gruppenfotos bereitstellt und dabei allerlei peinliche Momente entstehen, entlarvt sich das von selbst als Pose der Anteilnahme für die Kameras. Auch in dieser Situation konzentriert sich Andreas Maus auf die Opferperspektive, die seinem Film insgesamt Überzeugungskraft verleiht und ihn zu einem aufrüttelnden Beitrag für die öffentliche Diskussion "struktureller Fremdenfeindlichkeit" macht. Brisant und hochaktuell vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise und des NSU-Prozesses.

Der Kuaför aus der Keupstraße , Deutschland 2015 - Regie: Andreas Maus. Buch: Andreas Maus, Maik Baumgärtner. Kamera: Hajo Schomerus. Musik: Maciej Siedziecki, Marion Wörle. Mit: Özcan Yildirim, Hasan Yildirim, Abdulla Özkan. Real Fiction, 92 Minuten.

© SZ vom 29.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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