Diskurs:Missionierung im Supermarkt

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Ein Sammelband über Konsumästhetik zeigt, wie viel Kreativität im Kommerz steckt. Die Autoren entdecken eine neue ästhetische Würde in der Warenwelt.

Von Michael Mönninger

Die ästhetische Theorie hat sich weit davon entfernt, wie die Menschen ihre Lebenswelt mit allen Sinnen wahrnehmen. Besonders bei Konsumgütern stehen Geschmacksurteile stets im Verdacht, auf oberflächliche Reize und lügenhaften Schein hereinzufallen. Damit die Welt des Konsums nicht länger der Sphäre der Kunst und Ästhetik entgegensteht, haben die Literaturwissenschaftler Moritz Baßler und Heinz Drügh ein Dutzend Autoren versammelt, die dem Marktförmigen eine neue ästhetische Würde zuzusprechen versuchen. Sie wollen zudem zeigen, dass nicht nur Kunstwerke autonom, widerständig und interventionistisch sind, sondern auch Konsumgüter kritisches und transformatorisches Potenzial entfalten.

In seiner "Kritik der Warenästhetik" hatte der marxistische Theoretiker W. F. Haug 1971 die Objektseite der kapitalistischen Warenwelt mit ihren falschen Gebrauchswertversprechen als Betrug am Kunden attackiert und jede ästhetische Konsumerfahrung verworfen. Dagegen wendet sich der neue Sammelband zur "Konsumästhetik" versöhnlicher der Subjektseite zu und fragt, wie die praktische Aneignung und Aufladung der Dinge mit Gefühlen, Vorstellungen und Handlungen beim Kunden funktioniert. Konsumästhetische Urteile, so die Herausgeber, bestimmen in westlichen Gesellschaften über die Lebensweise, Identitätsbildung und Entscheidungsfindung, ohne von der Kunst- oder Kulturtheorie angemessen erfasst worden zu sein. Die Urteile, etwas sei schön, häßlich, erhaben oder schrecklich, seien einst der Bewertung des Kunst- und Naturschönen angemessen gewesen; dagegen würden heutige Konsumimaginationen mit neuen Eigenschaften wie fett, krass, krank, überdreht oder cool in noch nicht begriffene Wahrnehmungssphären verweisen.

Der Siegener Literaturwissenschaftler Thomas Hecken wundert sich eingangs über die sensorische Depravation führender Theoriebildungen, etwa in den Wirtschaftswissenschaften, die Konsum nur als Nachfrage ohne jedes Wollen oder Begehren verstehen. Eine vergleichbare Blindstelle entdeckt er bereits in Kants "Kritik der Urteilskraft", in der jede Form von Genuss, Vergnügen, Reiz und Rührung das freie Spiel der Einbildungskraft zerstört, die erst im interesselosen Wohlgefallen wieder zu einer ästhetischen Haltung zurückfindet. Gegen diese Theorien der Entsagung, die ästhetische Erfahrungen nur als distanziertes Desengagement kennen, führt der Autor den ersten deutschen Ästhetiker Alexander Gottlieb Baumgarten ins Feld, der sinnliche Erkenntnis nicht in der Reduktion von Erscheinungen auf Allgemeinbegriffe, sondern in der Freude an der Stofffülle der Welt sah.

"Warenästhetisches Erleben ist mehr als ein Versprechen, es macht einen Unterschied."

Der in Amsterdam lehrende Philosoph Josef Früchtl fragt, warum die Idee politischer Vernunft und demokratischer Selbstbestimmung tendenziell alle Gefühle und Affekte aus dem öffentlichen Diskurs ausschließt. Im Gegensatz zum kompensierenden Ausgleich von Emotionen in der Politik beschreibt er die transformierende Kraft des Zorns von protestierenden Studierenden an der Amsterdamer Universität. Statt im Dauerfrust über schlechte Verhältnisse zu verharren, orientierten sich ihre Aktionen, Parolen und Plakate an der Kreativität der Konsum- und Pop-Ästhetik, mit denen sie die universitären Sparzwänge als unhaltbar entlarvten.

Der Hildesheimer Kulturwissenschaftler Dirk Hohnsträter will die Analyse aus den Kritikroutinen lösen, indem er Konsum nicht nur als Bedürfnisbefriedigung, sondern als Kulturtechnik der Differenzierung versteht. Auswählen, Unterscheiden, Entscheiden, auch Verzichten seien die grundlegenden Optionen, auf denen die drei Geltungsbereiche des Konsums aufbauen: der praktische Gebrauchswert, der soziale Zeichenwert und der nicht nur semiotisch oder intrapsychisch, sondern performativ wirksame Ereigniswert, der die Selbstwirksamkeit des Käufers steigert und persönlichkeitstransformierende Kraft hat. "Warenästhetisches Erleben," sagt Hohnsträter, "ist mehr als ein Versprechen, es macht einen Unterschied."

Für den Leipziger Kunstwissenschaftler Wolfgang Ullrich strahlen Waren nicht mehr bloß praktische Gebrauchswertversprechen oder fiktive Selbstentwürfe des Kunden aus, sondern erobern längst auch das Feld der moralischen Werte. Fair trade, Naturkost, Tierwohl oder auch die friedlichen Duftnoten pazifistischer Parfüms sind laut Ullrich materialisierte Tugenden und Ideale, die als regulative Fiktionen einer überzeugenden Inszenierung bedürfen. Überraschend zieht der Autor eine historische Parallele zwischen der Werteverdinglichung im heutigen Konsum und der Massenproduktion von Allegorien in der barocken Dichtung und Malerei, die ebenfalls komplexe ethische Fragen in anschauliche Bilder fassten. Goethe, Vischer und Moritz stritten heftig um das angemessene Verhältnis von Bild und Idee, wobei ihnen die Justitia als misslungenste Versinnbildlichung galt: Mit verbundene Augen könne man kein Schwert führen, und wer ein Schwert führe, dem falle schnell die Waage aus der Hand.

Viele Dinge entfalten ein tückisches Eigenleben, das Käufererwartungen widerspricht

Zweifellos hat das heutige Gerechtigkeitsideal transparenter Fair-trade-Wertschöpfungsketten mit lachenden kolumbianischen Kaffeebauern eine evidentere Einheit von Idee und Bild, Wert und Produkt gefunden. Doch je mehr relevante Wertefragen in der Konsumwelt verhandelt werden, desto nötiger wird laut Ullrich eine genaue Beobachtung, welche Interessengruppen "Supermärkte zu Orten wachsender Missionierung" machen.

Im Gegensatz zur Konsumaffirmation seiner Kollegen ärgert sich der Frankfurter Ethnologe Hans P. Hahn über die Harmonie zwischen Kulturwissenschaft und Marketing; jede neue Konsumstudie der Soziologie oder Ethnologie werde begierig von der Fachpresse für Werben und Verkaufen aufgegriffen. Damit heutige Kulturwissenschaftler mehr Distanz zum Kommerz bekommen, möchte Hahn die Seite der Handlungsoptionen starkmachen, die Käufer bei der Annahme, Umwandlung, Benennung oder Inkorporierung von Waren ausüben. Viele Dinge entfalten ein tückisches Eigenleben, das den Erwartungen der Käufer widerspricht und Manipulationen provoziert. Im Prozess der persönlichen Aneignung entstünde dann der Mehrwert von neuen Bedeutungen und offenen Funktionen. Allein die tausendfachen "Unboxing"-Videos auf Youtube, in denen es zu seltsamen Begegnungen der dritten Art zwischen Käufern und Waren kommt, sind für den Autor ein erster Anstoß, den Konsum den Produzenten zu entreißen, und den praktischen Möglichkeitssinn der Kunden zu stimulieren.

Weitere Aufsätze behandeln politisch aufgeladene Konsumbeziehungen, etwa den Kalten Krieg im Kühlregal. Oder sie entdecken im Luxus- und Liebeskonsum von F. Scott Fitzgeralds "Great Gatsby" die Verwandtschaft von Dingen und Gefühlen. Dass dieser Roman schon vor 100 Jahren Fantasien und Fiktionen der Konsumästhetik beschrieb, hat nicht zuletzt dazu geführt, dass Ding-Theorien und materielle Kulturforschung im angelsächsischen Raum einen großen Vorsprung haben. Umso erfreulicher, dass die deutschsprachigen Kulturwissenschaften mittlerweile enorm nachziehen.

Moritz Baßler, Heinz Drügh (Hrsg.) : Konsumästhetik. Zum Umgang mit käuflichen Dingen. Transcript Verlag, Bielefeld 2019. 300 Seiten, 34,99 Euro.

© SZ vom 24.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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