Digitales Geld:Eine Weltwährung

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Das Logo der Kryptowährung Libra, mit der Facebook ins Finanzwesen einsteigen will. (Foto: Dado Ruvic/Reuters)

Mit seinem digitalen Finanzsystem Libra startet Facebook einen neuen Angriff auf Demokratie und Freiheit. Und geriert sich einmal mehr als Rebell gegen träge Bürokratien und faule Start-ups.

Von Evgeny Morozov

Was sollen wir von Facebooks plötzlichem Vorstoß in die Welt des digitalen Geldes halten? Gerade als die Regulierungsbehörden aus ihrem selbstverschuldeten Koma erwachten und begriffen, dass Facebook viel zu schnell viel zu groß geworden ist, hat das Unternehmen beschlossen, sein Engagement für sein Credo vom "schnellen Entwickeln und Zerstören" ("move fast and break things") zu verdoppeln. Die guten alten Zeiten, in denen Facebook lediglich die Privatsphäre Einzelner und die Integrität von Wahlen verletzte, sind vorbei. Und wir werden sie vermissen. Weil sie von der Chance in den Schatten gestellt werden, das globale Finanzsystem zu zerstören.

Zu diesem Zweck hat Facebook gerade Libra angekündigt, eine Währung, eine Infrastruktur, ein Netzwerk - eine diffuses digitales Gebilde, das groß genug ist, um alles für alle zu sein, mit dem "Prädikat wertvoll"-Habitus der hehren .org-Domain-Endung. Es ist die ultimative Schrödingers Katze der digitalen Wirtschaft: eine Blockchain/Nicht-Blockchain, sie wird als Geld/Nicht-Geld dienen, um Facebook/uns alle zu retten/zu begraben.

Die Angaben, wie dieses amorphe Projekt mal funktionieren wird, sind noch etwas dürftig. Man kann aber den ungefähren Anspruch erkennen. Es soll den Nutzern - vor allem denen, die dummerweise kein Bankkonto, aber glücklicherweise ein Facebook-Konto haben - ermöglichen, echtes Geld in Libra umzuwandeln, es virtuell einzuzahlen, es an andere zu schicken oder es zur Bezahlung von Dienstleistungen zu nutzen.

Wenn Facebook chinesische Ambitionen untergräbt, wird es für Washington zum strategischen Partner

Facebook lässt keine Zweifel an seinem humanitären Engagement aufkommen: Libra ist hier, um der Weltbank zu helfen, und nicht, um sie von den verbleibenden Vermögenswerten zu befreien. So gibt es für Uber und Mastercard, die sich Libra als Partner angeschlossen haben, auch gemeinnützige Organisationen wie Mercy Corps und Women's World Banking, die dem heutigen Finanz- und Digitalkapitalismus ein menschliches, ja sogar ein Smiley-Gesicht verleihen. Ohne dieses gemeinnützige Kontingent würde die Libra-Gesellschaft eher wie ein innovationsfreundliches Verbrechersyndikat aussehen. Ein Blick auf die Gesamtzahl der jüngsten Gerichtsverfahren, an denen Uber, Mastercard und Facebook beteiligt waren, reicht.

Es läge nahe, Facebooks Schritt in den Finanzsektor als weiteren Beweis für ihre unendliche Chuzpe und ihre kurzsichtige Arroganz misszuverstehen. Ist Libra nur eine clevere Art, den wütenden Regulierungsbehörden ins Gesicht zu spucken? Woher nimmt Facebook den Mut zu verkünden, dass sie mit der Politik zusammenarbeiten werden, um das regulatorische Umfeld für ihre Bedürfnisse "zu gestalten"? Kein vernünftiger Regulator wird wollen, dass es so aussieht, als ob er von jemandem aus dem Umkreis von Facebook beeinflusst wird.

Facebook ist jedoch kein Neuling in Sachen Kontroversen und wahrscheinlich weniger naiv, als es das Libra-Manifest vermuten lässt. Sheryl Sandberg, Zuckerbergs Stellvertreterin, ist mit der Finanzwelt bestens vertraut. Sie arbeitete früher mal unter Larry Summers im US-Finanzministerium. Könnte es sein, dass Mark Zuckerberg tatsächlich einen Plan hat? Trotz der ersten Eindrücke verfolgt Facebook eine riskante, aber rationale Doppelstrategie. Erstens muss das Unternehmen sein Geschäft dringend diversifizieren, weg von der Werbung. Zweitens wollen sie so weit wie möglich einige der strengeren Regulierungsmaßnahmen verhindern, die wahrscheinlich auftauchen werden, wenn der Wahlkampf um die US-Präsidentschaft in diesem Jahr anläuft.

Das Diversifikationsstück ist unkompliziert: Die chinesischen Wettbewerber von Facebook haben bereits gezeigt, dass Zahlungen und Kommunikation einen sehr profitablen Mix ergeben. Außerdem werden die Kontolosen der Welt nicht für immer so bleiben. So wie die Dinge jetzt stehen, werden sie höchstwahrscheinlich von Chinas Technologieriesen bedient, da Peking die digitalen Komponenten seiner globalen Strategie "One Belt, One Road" erweitert. Ohne eine starke Präsenz bei Zahlungsdiensten wäre Facebook nicht in der Lage, es mit Tencent oder Alibaba auf ausländischen Märkten aufzunehmen.

Andererseits steht Facebook durch die direkte Übernahme der chinesischen Konkurrenten in der Gunst von Donald Trump: Ein Facebook, das aggressiv versucht, die globale Expansion chinesischer Unternehmen zu untergraben, ist für Washington ein wichtigerer strategischer Vorteil als das pazifistische Facebook von gestern. Im Moment ist eine weitere Intensivierung des Kalten Tech-Krieges nur eine gute Nachricht für Facebook, da solch eine erhitzte Rhetorik (und Praxis) die Bemühungen Washingtons, ihn zu beenden, lähmen würde.

Aber es gibt noch andere Gründe für das Vorgehen von Facebook. Bei der Vorbereitung auf den Kampf um seine Zukunft scheint das Unternehmen begriffen zu haben, dass seine beste Waffe die ist, genau die Art von Populismus zu mobilisieren, die es bereits anderen Silicon-Valley-Giganten - insbesondere Uber und Airbnb - ermöglicht hat, ihre Nutzer für ihre Anti-Regulierungs-Kampagnen zu gewinnen.

Indem sie ihre Firma als Rebellentruppe gegen mittelmäßige Bürokraten und träge Unternehmensgründer positionieren, versuchen die Strategen von Facebook, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass ihr Unternehmen, die emanzipatorische Kraft der universellen Störung, nur ein Opfer der globalen Verschwörung durch kranke Politiker und faule Konkurrenten ist. Angesichts der grenzenlosen öffentlichen Feindseligkeit gegenüber Banken und ihren Regulierungsbehörden - die nur noch von der Feindseligkeit gegenüber den Telekommunikationsunternehmen übertroffen wird - könnten solche Argumente sogar überzeugend klingen.

Mit der Einführung von Libra könnte Facebook (wenn auch nur subtil) bestätigen, dass sich sein Geschäftsmodell bald ändern wird. Bemerkenswert ist, dass es bereits die Idee aufgegriffen hat - einst ein Gräuel in den Kreisen von Big Tech -, dass Benutzerdaten eine Ware mit einem Preisschild an der Spitze sind. So hat Facebook kürzlich eine App auf den Markt gebracht, die Nutzer dafür bezahlt, Daten darüber zu sammeln, wie es mit Diensten und Anwendungen seiner Mitbewerber interagieren. Aber was ist mit dem Wert der Daten, die die Nutzer generieren, während sie selbst Facebook nutzen?

Ein Geschäftsmodell ist nie eine solide Grundlage für eine stabile Demokratie

Die langfristige Wette von Facebook könnte sehr wohl darin bestehen, dass eine digitale Wirtschaft, in der Daten und digitale Dienste vollständig kommerzialisiert werden, genauso profitabel sein könnte wie diejenige, in der die Erfordernisse der Werbung dazu beitragen, diese Daten unverfälscht zu halten. Ja, Facebook müsste seinen Nutzern etwas zahlen. Andererseits könnte es ihnen auch ihre Dienste in Rechnung stellen. Solange alle derartigen Transaktionen in einer Währung unter ihrer impliziten Kontrolle durchgeführt werden - und wenn es Facebook gelingt, seine Nutzer davon zu überzeugen, dass seine Daten allein weit weniger wert sind als die von ihnen erbrachten Dienstleistungen - wäre es nicht unbedingt ein so schlechtes Ergebnis. Tatsächlich ist das mit ziemlicher Sicherheit besser als die Aussicht, das Unternehmen aus kartellrechtlichen Gründen in kleinere Stücke zu zerlegen.

Wenn Facebook bereit ist, eine solche scheinbar radikale Umstellung auf Zahlungen und Abonnements vorzunehmen, würde es viele seiner Kritiker entwaffnen, die darauf bestanden haben, dass der Grund, Facebook zu fürchten, gerade darin besteht, dass es zu süchtig nach Werbung ist und andere Modelle nicht annehmen kann. Aber wäre ein anderes Facebook - ein Champion der digitalen Währungen - weniger bedrohlich?

Vielleicht haben die Kritiker die Art der Bedrohung missverstanden. Facebook, zusammen mit Amazon, Alphabet und einigen anderen, ist ein Problem, das sich grundlegend von dem anderer Branchen unterscheidet. Solange sie mit Daten handeln und solange Daten das Lebenselixier von Demokratie und Wirtschaft bleiben, werden diese Unternehmen einen unverhältnismäßigen und unangemessenen Einfluss auf Entscheidungen ausüben, die in Parlamenten und nicht auf Marktplätzen getroffen werden sollten. Ob sie es durch Extrahieren unserer Daten und dem Anzeigen von Werbung oder durch Kaufen unserer Daten und Verkaufen ihrer Dienstleistungen ausüben können, ist nicht so wichtig. Ein Geschäftsmodell, so profitabel es auch sein mag, ist nie eine solide Grundlage für eine stabile Demokratie. Dafür haben wir Verfassungen.

Aus dem Englischen von Maximilian Senff.

© SZ vom 01.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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