Digitaler Alltag:Der Lebensrekorder

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Rundumüberwachung für den Schnappschuss - was passiert, wenn künstliche Intelligenz entscheidet, was die Kamera aufnimmt. Google Clip kann das schon. Mit Folgen.

Von Michael Moorstedt

Die Frequenz, mit der aus Fiktion Fakt wird, beschleunigt sich. In einem gerade sehr konkreten Fall hat es vier Jahre gedauert. 2013 beschrieb der Autor Dave Eggers in seinem dystopischen Silicon-Valley-Roman "The Circle" eine winzige Kamera namens Seechange, die man überall anbringen kann und die permanent alles aufnimmt.

Wer Eggers damals für zu viel Zorn und Überzeichnung noch belächelt hat, steht spätestens seit der jüngsten Produktveröffentlichung von Google ziemlich deppert da. Das Unternehmen präsentierte neulich eine neue Kamera mit zwölf Megapixel Auflösung, 130-Grad-Weitwinkel und ein paar Gigabyte internem Speicher. Alles wie gehabt. Dahinter werkelt jedoch modernste Bilderkennungssoftware, und so weiß die "Clips"-Kamera stets, was vor ihrem Objektiv passiert. Im Laufe der Zeit, so das Versprechen, würden die Algorithmen merken, welche Menschen im Leben des Nutzers wichtig sind. Sie nimmt nur auf, wenn etwas wirklich Spannendes passiert und die Beleuchtung stimmt. Man kann sie im Wohnzimmer aufstellen oder sich an die Kleidung klemmen. Dort wartet sie dann auf das perfekte Bild.

Mit der automatisierten Gesichtserkennung steht damit auch privaten Nutzern das Arsenal von Sicherheitsbehörden zur Verfügung. Man muss sich erst einmal von der alten Vorstellung lösen, was eine Kamera eigentlich ist. Heutzutage schon längst nicht mehr ein mechanisches Konstrukt aus Linse, Blende und Verschluss. Sondern Software in einer Hülle aus Glas und Metall. Der Code, der dahintersteckt, ist bekannt. Er existiert seit ein paar Jahren im Netz auf Googles hauseigener Foto-App.

Das Programm hat eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was hier alles gespeichert wird. Die Suchvorschläge richten sich nach den von den Nutzern hochgeladenen Bildern: Nachtclubs, Wintersport oder Landzungen etwa, sollte man derartige Dinge jemals fotografiert haben. Aber auch für abstrakte oder emotionale Begriffe wie etwa Abenteuer oder sogar Liebe spuckt der Algorithmus adäquate Fotos aus. Menschen, die auf moosigen Baumstümpfen sitzen etwa oder eine Mutter, die ihr Kind auf dem Arm trägt.

Der Konzern will beruhigen: Die Kamera wird nichts ins Netz laden, nichts passiert in der Cloud

"Alles, was passiert, muss bekannt sein" - mit diesem Satz preist der Technik-Monopolkonzern Circle in Eggers' Roman seine Kamera an. Alle Nutzer sollen "transparent" werden. Kein Wunder, dass Googles Marketingteam ein wenig sanfter an die Sache herangeht. Die Clips-Kamera sei vor allem für Eltern und Tierliebhaber gedacht, heißt es. Eine mit künstlicher Intelligenz ausgestattete Fotofalle für Kinder und Haustiere also, permanente Quasi-Überwachung für möglichst viele Schnappschüsse. Schließlich, so das Werbenarrativ, hörten die lieben Kleinen ja bislang immer gerade dann mit ihren Kapriolen auf, wenn der Besitzer oder Erziehungsberechtigte die Kamera zücke.

Auch sonst hat man sich alle Mühe gegeben, der Kamera so viel wie möglich von ihrer unheimlichen Implikation zu nehmen. Das fängt bei dem knuffigen, mattweißen Äußeren an, geht weiter mit einer LED, die kontinuierlich blinkt, wenn gefilmt wird, und endet erst bei dem Versprechen, dass alles, was aufgenommen wurde, so lange auf dem Gerät verbleibt, wie es der Nutzer wünscht. Nichts werde automatisch ins Netz geladen. Die Gesichtserkennung finde auf der Kamera selbst und nicht in der Cloud statt.

Die Positiv-Botschaften scheinen sich gelohnt zu haben, führende Tech-Blogs bescheinigten der Clips-Kamera Unbedenklichkeit, und das Gerät war nach kürzester Zeit vergriffen. Selbstverständlich arbeiten auch die anderen großen Tech-Konzerne an ähnlichen Geräten. Bei Facebook etwa entwickelt ein 60 Mann starkes Team eine "AI Camera". Die Richtung ist klar: In Zukunft wird ein Fotoapparat immer schon wissen, wo er sich gerade befindet und worauf er gerichtet ist.

Dave Eggers' Seechange war nur die letzte literarische Variation dieses Themas. Angefangen hat alles mit George Orwells Televisor, und dann gibt es auch noch den Äppärät, den Gary Shteyngart in seinem Roman "Super Sad True Love Story" beschreibt. Es ist eine ebenso pervertierte wie konsequente Mutation unserer heutigen Smartphones, die neben Bilddaten auch noch sämtliche anderen Vitalitätssignale ihres Trägers live überträgt. Auch in der echten Welt haben sich schon diverse Unternehmen an dem Konzept probiert. Die meisten der Geräte gingen aber mit der Holzhammermethode vor, die Kameras knipsten einfach alle 30 Sekunden ein Bild, egal, ob ihr Träger gerade die beste Zeit seines Lebens verbrachte oder einfach nur auf dem Sofa vor sich hin vegetierte.

Nicht nur deshalb ist die Google-Kamera gar nicht so revolutionär, wie es vielleicht erscheint. Das komplette Leben einer Person zu speichern, zu indexieren und auf Wunsch wiederzugeben, ist ein sehr alter Traum der Computerwissenschaft. Schon in den Vierzigerjahren erträumte sich der Informatik-Pionier Vannevar Bush einen "Memory Extender". Der sogenannte Memex - ein "vergrößerter Anhang des Gedächtnisses" des Nutzers - sollte Platz in einem wuchtigen Schreibtisch finden, auf dem sich zwei berührungsempfindliche Bildschirme zur Sichtung von Mikrofilmen befanden, außerdem diverse Schalter zum Vor- und Rückspulen von Erinnerungen.

In den frühen Nullerjahren arbeitete dann der US-Informatiker Gordon Bell bei Microsoft an einem Projekt namens "MyLifeBits". Ausgestattet mit einem Mikrofon und einer um den Hals getragenen Kamera hielt er jede Begegnung, jeden Spaziergang und jede Konversation fest, nur um sie so bald wie möglich auf seiner Festplatte zu archivieren. Die Technik wird zum Biografierekorder. "Jedes Leben passt auf ein Terabyte", sagte Bell während seines Projekts, und das ist, wenn man ein wenig darüber nachdenkt und die Preise für Speicherplatz kennt, eine ziemlich traurige Einlassung.

Das menschliche Bedürfnis, Bilder aufzunehmen, zu analysieren und vor allem zu teilen, hat sich in den letzten Jahren als beinahe unstillbar erwiesen. Es ist also nur logisch, das permanente Speichern und die allgegenwärtige Wahrnehmung an einen Computer gewissermaßen auslagern zu wollen. Es gibt so auch eine neue Unmittelbarkeit: Diese paar Sekunden, die ja immer noch vergehen, bevor man das Smartphone aus der Hosentasche gezerrt und die Kamera-App gestartet hat, werden nun auch noch getilgt.

Wer von der Technik mehr Bequemlichkeit will, der büßt wie immer Selbstbestimmung ein

Wie zeitgemäß ist das Prinzip der rohen Datenmasse aber eigentlich noch, wo doch jeder ins Netz geladene Schnappschuss sorgfältig bearbeitet wird und die Menschen so ausdauernd mit dem Kuratieren ihres Lebens beschäftigt sind? Wenn man sich in den Bilderwelten der wirklich erfolgreichen Instagram-Nutzer umschaut, sieht man keine spontanen Szenen, sondern ein heftigst von Filtern überlagertes "Best of". Auch hier soll künstliche Intelligenz für Abhilfe sorgen. Die Software präsentiert retuschierte Fotos, deren Stil angeblich zum Motiv passt. Hier zeigen sich aber noch die Grenzen der Technik, die automatische Bildbearbeitung wirkt noch reichlich beliebig. Es ist damit zu rechnen, dass sich das schon bald ändern wird.

Ein sowieso viel drängenderes Problem aber ist die Tatsache, dass mit Google Clips ein Computer entscheidet, in welchem Moment der Auslöser zu drücken ist. Bedarf es dafür nicht in gewissem Maße auch der Empathie? Die kann man nun mal nicht einprogrammieren. Könnte ein Algorithmus weltbewegende Motive von der Qualität der Fotografen der legendären Agentur Magnum auswählen? Und was ist, wenn man in der Frage darüber, was ein denkwürdiger Moment ist, nicht mit der Kamera übereinstimmt? Es ist wie so oft: Wer von der Technik mehr Bequemlichkeit will, der büßt im Gegenzug an Selbstbestimmung ein.

© SZ vom 19.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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