Digitale Welt:Die Masken der Chelsea Manning

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Die Gesichter, die zu Chelsea Manning hätten gehören können: Die Installation „A Becoming Resemblance“ von Heather Dewey-Hagborg. (Foto: Sean Gallup/Getty)

Die "Transmediale" im Haus der Kulturen der Welt in Berlin spricht von den Schrecken der digitalisierten Welt. Doch es herrscht zu viel Selbstverständnis. Wer kritisiert endlich die Kritiker?

Von Jens-Christian Rabe

Man könnte es als stille Anklage verstehen, aber eigentlich geht von diesen Gesichtern etwas viel Unbequemeres aus: eine bohrende Friedfertigkeit. Manche sind dabei eindeutig als männlich zu erkennen, andere als eindeutig weiblich, und wieder andere wirken auf die denkbar selbstverständlichste Art androgyn. Die Installation "Probably Chelsea" war das zentrale Kunstwerk der diesjährigen Digitalkultur-Konferenz Transmediale im Berliner Haus der Kulturen der Welt.

Wenn alle kritisch sind: Wo bleiben dann die Kritiker der Kritiker - und die Kritisierten?

Es ist ein Projekt der amerikanischen Künstlerin Heather Dewey-Hagborg, einer Spezialistin für Gesichtserkennung, und einer weltberühmten Whistleblowerin: Chelsea Manning. Diese hatte im Jahr 2010 Wikileaks Hundertausende geheimer Dokumente über den Irakkrieg zugespielt. Sie wurde danach zu 35 Jahren Haft verurteilt, aber von Barack Obama schon 2017 freigelassen. Für "Probably Chelsea" hatte Dewey-Hagborg aus DNA-Proben von Manning (die ersten von ihnen wurden noch aus dem Gefängnis geschmuggelt) mögliche Gesichtsporträts erstellt, die nun im Haus der Kulturen der Welt als Menschen-Masken von der Decke hingen - und sich äußerlich natürlich verblüffend deutlich voneinander unterschieden. Allesamt könnten sie eben auch Chelsea Manning sein. Oder vielmehr: All diese Gesichter hätte die DNA von Chelsea Manning eben auch zur Folge haben können.

Ein besseres Sinnbild ist für die Konferenz nicht denkbar, deren Vorträge und Diskussionen heuer unter dem Motto "Face Value" die Nennwerte erkunden wollten, zu denen nicht nur die digitale Kultur gerade so zu haben ist - aber dabei die Behauptung nicht aufgeben, dass dasselbe doch vielleicht auch ganz anders, besser, gerechter, menschlicher sein könnte.

Doch je länger man die Gespräche und Reden verfolgte, umso klarer wurde: In Zeiten, in denen das Netz geflutet wird von extremistischer Hass-Propaganda, in denen der Finanzkapitalismus die Ökonomie beherrscht und in denen die Schrittmacher der Entwicklung Digitalkonzerne wie Facebook und Google sind, die längst gigantische Supra-Staaten sind und die möglichst lückenlose Überwachung ihrer Nutzer betreiben - in diesen Zeiten fällt es selbst den unerschütterlichsten Utopisten schwer, noch das Positive zu sehen. So sehr sie sich auch mühten.

Und so war es kein Wunder, dass die eindrucksvollsten Auftritte die strengen Skeptiker hatten. Etwa die französische Kulturwissenschaftlerin Françoise Vergès, die über die Produktion von (vermeintlichem) Konsens und im Zusammenhang über die Vergesslichkeit der Macht sprach: "Was wir inzwischen bekommen haben, ist etwas, das man vielleicht ,Rassismus ohne Rassen' nennen könnte, so oft hört man Sätze wie ,Ich habe ja sogar schwarze Freunde, aber ...' Dieser neue Rassismus ist noch viel schwieriger zu bekämpfen als der alte." Oder der amerikanische Medienwissenschaftler Jonathan Beller, der die komplette Unterordnung von Politik und Gesellschaft unter das Regime der Information beschrieb. Oder die amerikanische Digitalforscherin Lisa Nakamura, die zeigte, in welche Untiefen des Sexismus die Geräte der Virtuellen Realität wie die Oculus-Rift-Brille führen, die vordergründig ganz neue Empathie-Erfahrungen versprechen. Es fange schon damit an, dass Frauen viel schneller schwindlig werde bei der Nutzung, und ende noch lange nicht damit, dass bei ihrer Produktion asiatische Frauen ausgebeutet würden. Nakamuras Erklärung, man habe die Pflicht, die digitalen Werkzeuge gegen die Intentionen ihrer Schöpfer zu benutzen, war am Ende ein sehr schwacher Trost.

Man ist damit allerdings auch beim wunden Punkt der Veranstaltung, die inzwischen aus allen Nähten platzt. Die Konferenz ist kein kleines Avantgarde-Treffen mehr, sondern das große, sehr internationale Klassentreffen der institutionalisierten linken Gegenkultur (gesprochen wird ausschließlich Englisch), schon allein symbolisiert durch die Lage des Hauses der Kulturen der Welt. Es liegt im Berliner Tiergarten direkt zwischen Bundespräsidialamt und Kanzleramt. Thematisch und in ihrem Anspruch hat sich die Transmediale - parallel zur allgemeinen digitalen Ernüchterung - in den vergangenen Jahren deutlich realpolitisiert. Zum Glück. Der Blick geht längst hinaus über die Spinnereien der Medientheoretiker und Medienkünstler.

Umso unangenehmer fällt jedoch auf, wenn nach kritischen Vorträgen die Redner anschließend auf der Bühne offenbar entweder von ihren besten Freunden, von ihren Schülern oder gleich von Bewunderern interviewt werden. Da hätte man sich mehr als einmal weniger Selbstversicherung gewünscht und mehr Mut zu instruktiven Kontroversen. So wirkte die Situation allzu oft arg laborhaft, antiseptisch, und das mit Chelsea Manning versinnbildlichte Versprechen einer ganz anderen, besseren Ausprägung derselben Materie nicht wie ein ernst gemeintes Praxisziel, sondern wie eine wohlfeile Behauptung.

Wo waren regierungsnahe Digitalpolitiker, um allzu utopische Ideen auf den Boden der Tatsachen herunterzuholen - oder um zuzugeben, dass manche Ideen gar nicht so utopisch sind? Wo waren die Vertreter (oder wenigstens kluge Verteidiger) der großen fünf Digitalkonzerne Apple, Facebook, Google, Amazon und Microsoft, um sich der Kritik zu stellen - aber auch, um die Kritik zur Rede zu stellen?

Stattdessen hatte man zu oft das ungute Gefühl, dass der Hauptgegner noch immer ein allmächtiges, unbewegliches "System" ist, dessen sinistre Absichten weiter aufgedeckt werden müssen. Diese Zeiten sind aber leider spätestens seit der Wahl Trumps und der AfD vorbei. Die Konflikte liegen längst furchterregend offen da.

Noch stärker als die vielen Masken Chelsea Mannings war deshalb am Ende das Kunstwerk zur Stunde womöglich doch ein unscheinbarer weißer Automat, der im Untergeschoss an einer Treppenwand gegenüber dem Konferenz-Café stand. Mit einem eingebauten kleinen weißen Joystick konnte man auf dem Bildschirm des Automaten eine pixelige kleine Cursor-Hand über eine mehrspurige graue Autobahn bewegen. Die Geschwindigkeit des Cursors nimmt dabei zügig zu. Aufgabe ist dann, den entgegenkommenden Logos der fünf großen Digitalkonzerne auszuweichen. Was schnell unmöglich ist.

Ein subtiler Kommentar zur Lage ist natürlich etwas anderes. Aber wenn inzwischen eines klar ist, dann, dass die Probleme, die vor uns liegen nach der digitalen Revolution, wirklich alles andere als subtil sind.

© SZ vom 05.02.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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