Digitale Bibliothek:Vergessene E-Books

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Microsoft gibt die Buch-Sparte seines App-Stores auf. Den Nutzern stehen deswegen ihre digitalen Bücher bald nicht mehr zur Verfügung, sie werden einfach nicht mehr angezeigt. Was bedeutet das für das kulturelle Gedächtnis?

Von Maximilian Senff

Man stelle sich vor: Es ist Sonntagmorgen, der Kaffee frisch aufgebrüht, man möchte den Roman, der einen in den letzten Tagen gefesselt hat, zu Ende lesen. Doch im Wohnzimmer steht kein einziges Buch mehr im Regal. Unvorstellbar? Für Kunden, die im Microsoft-Store E-Books erworben haben, wird dieser Albtraum, zumindest digital, Realität. Von Anfang Juli an sind keine Bücher mehr auf der Plattform verfügbar. Sie werden ausnahmslos aus der Datenbank entfernt und den Nutzern auf ihren Geräten einfach nicht mehr angezeigt. Sie bekommen jedoch zumindest ihr Geld zurück. Bereits vor drei Monaten hatte Microsoft angekündigt, dass man die, zugegeben nicht sehr bekannte, Buch-Sektion des App-Stores einstellen werde. Der Schritt überrascht nicht. Während Microsoft in Sachen Soft- und Hardwareentwicklung bekanntermaßen gut ist, tut sich das Unternehmen mit Inhalten und deren zielgruppengerechter Aufbereitung schon immer schwer. Weitere Ressourcen in einen Nischenmarkt abseits des Kerngeschäfts zu stecken, hat für Microsoft offenbar keinen Sinn mehr. Das Ende der Buchsparte steht dabei sinnbildlich für einen Kontrollverlust, der nicht nur Bücher, sondern auch Musik und Filme, betrifft.

Für verschwundene Notizen gibt es eine Extra-Entschädigung

Durch die Digitale Rechteverwaltung (DRM) - ein Verfahren, mit dem die Nutzung digitaler Medien kontrolliert werden soll, - sind individuelle Nutzungsrechte an den jeweiligen Anbieter gebunden. Kommt es zu Unternehmensübernahmen oder -aufgaben, ist der Fortbestand von mithilfe der DRM-Systeme gespeicherten Informationen ungewiss. Selbstverlegte E-Books könnten so einfach verschwinden. Im kulturellen Gedächtnis der Gesellschaft bleiben sie dann nur noch durch die Nationalbibliothek, die auch für Netzpublikationen im gesetzlichen Auftrag Pflichtexemplare sammelt.

Der Sinn des Pflichtexemplarrechts besteht darin, alle Veröffentlichungen eines Landes als Zeugnis des kulturellen Schaffens möglichst vollständig zu bewahren, sie bibliografisch zu dokumentieren und für die Allgemeinheit zugänglich zu machen. Archive erfüllen in einer digitalen Lebenswelt eine außergewöhnlich wichtige Aufgabe. Sie schaffen Sicherheit gegen das Vergessen. Wäre das Bücherregal aus dem Wohnzimmer verschwunden, wären auch alle Anmerkungen, die Leser in Büchern machen, weg. Selbst bei E-Books gibt es eine Notizfunktion. Wer die benutzt hat, bekommt von Microsoft 25 Dollar extra gutgeschrieben. Als Entschädigung für den Gedächtnisverlust.

© SZ vom 29.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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