Dieter Bohlen wird 60:Der Pop-Nachschuboffizier

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Musik-Produzent und Castingshow-Kalif Dieter Bohlen feiert seinen 60. Geburtstag. Bleibt nur die Frage: Warum ist es bis heute keinem Künstler gelungen, einen Bohlen-Song unverwechselbar zu machen?

Von Joachim Hentschel

Die Geschichte, wie Dieter Bohlen seinem Werk die Krone aufsetzen wollte, spielt im Sommer 1991. Der Hamburger Musiker, Komponist und Produzent hatte zu dem Zeitpunkt schon um die 60 Millionen Platten verkauft, Nummer-eins-Hits in Griechenland, Spanien, der Schweiz und natürlich in Deutschland gelandet, "Tatort"-Titellieder platziert, Oldie-Paraden-Sänger aufgemöbelt, im Moskauer Kreml für die aufgeregte Raissa Gorbatschowa gespielt.

Jetzt will er ein einziges Mal mit einer echten Künstlerin arbeiten, er will Respekt, nicht nur Geld. Er schreibt also einen Song für Dionne Warwick, eine der größten amerikanischen Soul-Entertainerinnen. Fliegt nach Los Angeles, wo er das Stück als Blindbewerbung abgibt. Liegt am Pool, wartet, hat zwischendurch noch Sex mit einer Frau, die sich ihm als Miss Kalifornien vorstellt. Und bekommt am Ende den Studiotermin mit Warwick, die ausrichten lässt, sie finde sein Lied ganz toll.

Ein Deutscher verkauft den Amerikanern ihre eigene Musik zurück, das ist doch was.

Mit drei Stunden Verspätung kommt Warwick zur Session. Beginnt, sich warmzusingen. Und Bohlen erstarrt. Die Diva hält sich zwar an seinen Schulenglisch-Text, aber ändert die Melodie. Verjazzt sie, legt sich hinein, wälzt sich in dem Lied, das doch als besenreine Leihgabe gedacht war. Als dann die eigentliche Aufnahme beginnt, singt Dionne Warwick Bohlens "It's All Over" jedoch genau wie vorgeschrieben. Der Komponist ist begeistert, erleichtert. Dass seine Interpreten ihn so feurig veralbern, das kennt er nicht.

Mann der unbedingten Präsenz und Offensichtlichkeit

An diesem Freitag wird Dieter Bohlen 60 Jahre alt, der letzte runde Geburtstag vor der Rente, vielleicht auch sein letzter, den die deutschen People-Medien groß feiern. Dass er - der Pop-Nachschuboffizier, der TV-Jurypräsident, ein Mann der unbedingten Präsenz und Offensichtlichkeit - mit 70 immer noch in Sendungen für die werberelevante Zielgruppe sitzen wird, ist eher unwahrscheinlich. Er muss nichts mehr beweisen: Seine Lieder bestehen aus mehr als drei Akkorden, das weiß man mittlerweile. Er kann nicht singen, sogar das wurde in aufwendigen Testreihen belegt, aber sagen die Leute das nicht auch über Bob Dylan?

Bohlen soll man nicht glorifizieren oder zusätzlich verteufeln, beides gab es oft genug, nur eines muss man noch anmerken, ganz wertfrei: Kein einziger der vielen Sängerinnen und Sänger, deren Platten er in den vergangenen 30 Jahren betreut hat - Al Martino, Peter Alexander, Bonnie Tyler oder Roy Black -, keiner hat es je geschafft, einem Dieter-Bohlen-Song die eigene Persönlichkeit zu injizieren. Ihn unverwechselbar zu machen. Dionne Warwick war kurz davor, sich seinen Song anzueignen, das Imitat zu authentifizieren. Aber so war es nicht gedacht. Das Lied hat sich gewehrt.

Und man kann erklären, warum. "It's All Over", das Warwick-Stück, klingt wie ein sonderliches Amalgam aus "Lindenstraße"-Titelmusik und amerikanischer Soulschlagerpose, Werbelied und Das-war-ihr-Leben-Pathos. Der in den Achtzigerjahren oft geäußerte Vorwurf, alle Bohlen-Songs würden sich gleich anhören, geht weit am eigentlichen Punkt vorbei.

Denn wie im Sound von Modern Talking, seinem sprichwörtlichen Superduo, die Versatzstücke aus Italo-Disco und britischem High-Energy-Beat ineinandergreifen, wie sich balearischer Frohsinn und der Geist des wohltemperierten Salonklaviers auf Augenhöhe begegnen, das ist zwar zutiefst geschmacklos und konsequent zusammenkopiert. Aber eben auch die Art von paneuropäischer Popmusik, die ebenso gut auf bulgarischen Rummelplätzen laufen kann wie in Kairoer Taxizentralen oder Bordellwartezimmern in Weißrussland. Weil sie nichts ist, zumindest nichts Bestimmtes.

Weit mehr als bloße Zelebrierung des Unoriginellen

Das macht den Unterschied zu den anderen großen deutschen Pop-Exporten aus. Während sich die Elektronik von Kraftwerk oder der Münchener Discosound immer über ihren innovativen Kern rechtfertigten, zelebrieren Bohlens Projekte Modern Talking oder Blue System nicht nur das hemmungslos und gezielt Unoriginelle, das als Technik zur rigorosen Wahrheitsfindung im Pop ja immer verbreitet war. Es geht tiefer: Wie er als Produzent die Elemente nach Hörensagen zitiert und montiert, ihnen jede nachweisbare Identität austreibt, alle Grenzen verwischt - am Ende ergibt das etwas Vogelfreies.

Eine Musik ohne Eigenschaften, eine Folklore für das Nirgendwo, für die keinerlei Reisebeschränkungen zu gelten scheinen. So wenig zu packen wie der Anarchist, der sich an der Herdplatte die Fingerabdrücke wegbrennt. Wenn man so will, dann ist Bohlens Diskografie das Schengener Abkommen des deutschen Pop.

Als Modern Talking in New York auftraten, waren dort keine Deutschen oder Amerikaner im Saal zu sehen, sondern Polen, Russen, Mongolen, Vietnamesen, Immigranten aus Osteuropa und Asien. Und sollte sich noch herausstellen, dass nicht David Hasselhoff, sondern Dieter Bohlen die Berliner Mauer zum Einsturz gebracht hat: Man würde nur kurz husten.

Ein hybrides TV-Gesicht

Für Bohlen, den Macher und Narziss, war dieser Zustand des demonstrativen Nicht-Existierens auf Dauer natürlich nicht tragbar. Sogar als die Punkband Die Goldenen Zitronen 1986 ihr Modern-Talking-Hasslied "Am Tag, als Thomas Anders starb" sang, wurde er beim Todeswunsch übersehen - weshalb er zum Fernsehen musste, spätestens 2002 in der Casting-Show "Deutschland sucht den Superstar", die auch wieder nur eine Art Kopie war, wenn auch per Lizenzvertrag.

Für seine Persona als sadistischer Juryboss, die er bis heute spielt, bediente Bohlen sich bei den zwei Vorbildern Pete Waterman und Simon Cowell aus der britischen Vorbildshow "Pop Idol". Ihre Sprüche - "Wenn du singst, klingt das so, als wenn in Litauen eine Katze erwürgt wird!" - musste er größtenteils nur ins Deutsche übersetzen. Dass sein TV-Gesicht ebenso hybrid ist wie seine Musik, sieht man ihm kaum an.

Seit der E-Commerce ein Weltwirtschaftsfaktor ist, gibt es das Phänomen der Copycats: Unternehmen, die sich darauf spezialisiert haben, bewährte Konzepte aus den USA zu übernehmen, sie fast unverändert nachzubauen und unter verschiedenen Namen in den Rest der Welt zu verkaufen, bis keiner mehr die Spur verfolgen kann. Dieter Bohlen, so könnte man sagen, hat das Konzept schon vor 30 Jahren auf die Popbranche angewandt. Also doch, ein großer Ökonom. Wer das begriffen hat, muss die Musik nie wieder hören.

© SZ vom 07.02.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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