Die Zeitung der Zukunft:Die Flut filtern und lenken

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Noch ist es nicht so recht mobil, das Internet, aber wenn die Daten erst einmal weltweit on air sind, können sich Internet-Angebot und Qualitäts-Printprodukt zur Zeitung der Zukunft vereinen. Und die ist definitiv mehr als das Papier, auf dem sie heute gedruckt wird.

Helmut Martin-Jung

Der Flüchtende atmet auf. Erst einmal ist er sicher hier in der U-Bahn. Niemand hier weiß, dass die Polizei ihn sucht. Niemand? Auf der elektronischen Zeitungsseite, die sein Gegenüber gerade liest, verschwindet plötzlich ein Zweispalter. Ein neuer tritt an seine Stelle. Ein Artikel mit einem Foto. Mit seinem Foto. Und er ist wieder auf der Flucht.

Bis zu einer Zeitungsseite ist es noch weit, aber die Aufgabe erscheint als lösbar: Im Juli diesen Jahres gezeigter Prototyp einer Kunststofffolie, die einmal geladene Informationen ohne weiteren Stromverbrauch dauerhaft anzeigt. (Foto: Foto: AFP)

Die Zeitung, befreit von den Zwängen des Redaktionsschlusses und des Rotationsdrucks. Was gerade passiert, wird schon an die Abonnenten verschickt. Endlich wieder genauso aktuell wie die elektronischen Konkurrenten Rundfunk, Fernsehen und Internet: Ist diese Vision aus Steven Spielbergs Science-fiction-Streifen "Minority Report" die Zukunft der Zeitung?

Das Rieplsche Gesetz

Keine Zeitung zu haben, das bedeutete vor zwei-, dreihundert Jahren nicht, dass einem etwas fehlte, um nasse Schuhe auszustopfen, Fische einzuwickeln oder das von der Nacht zerknitterte Gesicht beim Frühstück taktvoll vor dem Ehepartner zu verbergen. Wer keine Zeitung hatte, bei dem hatte sich nicht etwa der Austräger verspätet. Zeitung, das kannten und verwendeten noch Lessing und Schiller als ein anderes Wort für Nachricht.

Bis heute ist "die Presse" ein Synonym für journalistische Berichterstatter, aber als schnellstes Massenmedium hat sie schon lange ausgedient. In den Industrienationen gehen die Durchschnittsauflagen der Zeitungen zurück, das Durchschnittsalter ihrer Leser steigt beständig.

Die "Preßbengels" (Bismarck) der elektronischen Medien haben die Nachrichten des Tages in aller Regel schon gesendet oder ins Internet gestellt, wenn in den Nachmittagskonferenzen der Zeitungsredaktionen die führenden Köpfe noch über den richtigen Aufmacher oder die Plätze für Kommentare debattieren.

Wird die Zeitung also schon bald ausgestorben sein? Oder müsste sie das nicht vielmehr schon längst sein? Seit mehr als einem Jahrzehnt gibt es das World Wide Web, schon mehrere Jahrzehnte Fernsehen, noch länger Radio - und trotzdem noch immer Zeitungen.

Kommunikationswissenschaftler erklären sich das mit einer Beobachtung des Altphilologen und Journalisten Wolfgang Riepl aus der Zeit kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Riepl hatte festgestellt, dass in der Antike alte Kommunikationsriten erhalten blieben, auch wenn es neue, fortgeschrittenere gab.

Als Rieplsches Gesetz und projiziert auf die moderne Medienwelt, wabert diese Erkenntnis nun seit einiger Zeit durch die Wissenschaft und sagt in etwa: Neue, höher entwickelte Medien haben die alten nie verdrängt. Aber stimmt das wirklich?

Von meiner 1989/90 geschriebenen Magisterarbeit habe ich zwar eine elektronische Version auf Diskette, aber in meinem derzeitigen Computer, dem vierten seitdem, weder ein Laufwerk, diese zu lesen, noch das Programm, mit dem ich die Arbeit damals schrieb. Oder E-Books: Die elektronischen Lesegeräte, einst dazu entwickelt, das gedruckte Buch überflüssig zu machen, wollten am Ende zu wenige haben.

Ist also das Rieplsche Gesetz falsch, werden Medien doch verdrängt? Ja, wenn man den Begriff Medium vor allem auf das Stoffliche bezieht. Doch es gibt ja noch immer Disketten. Es sind, zugegeben, andere. Und auch diesen ist der baldige Tod geweissagt.

Aber auch wenn der tatsächlich eintritt, so wird eines bleiben: die Notwendigkeit, Daten zu speichern und zu transportieren, egal welche Art von Netzen oder Trägersystemen man künftig dafür verwendet.

Zeitung als Prinzip

Eine Zeitung aber ist nicht das Papier, auf das sie gedruckt ist. Zeitung ist ein Prinzip, ist die Botschaft, die es zu transportieren gilt. Und dabei ist das Medium, womit das geschieht, zweitrangig. Zurzeit ist die Gattung fast ausschließlich an "totes Holz" gebunden, wie die Blogger das nennen, die glauben, mit ihrer Art des Journalismus von unten Zeitungen überflüssig zu machen.

Bäume werden noch mindestens solange dran glauben müssen, bis es das seit Jahrzehnten versprochene elektronische Papier nicht nur für ein paar Spezialanwendungen, sondern beim Discounter an der Ecke gibt. Und bis die Bedienung einmal so einfach sein wird wie heute eine Zeitung vom stummen Verkäufer zu holen.

Oder bis man sich via Handy ebenso einfach Artikel auf eine Spezialbrille einblenden lassen und endlich in der U-Bahn lesen kann, ohne dem Gegenüber im Gesicht herumzurascheln.

Man wird mit Errungenschaften dieser Art weder seine Schuhe ausstopfen wollen noch einen Fisch einwickeln können. Man muss sie vielleicht nicht einmal lieben. Aber ihre Vorteile werden auf Dauer den Ausschlag geben.

Elektronisches Papier, das sich über eingebaute mobile Empfänger an jedem beliebigen Ort aufladen lässt, ist einfach billiger als der gesamte Apparat, der momentan unterhalten werden muss, bis aus totem Holz das wird, worin am übernächsten Tag der Fisch eingeschlagen wird.

Die Spezialfolien oder andere elektronische Geräte schaffen aber auch völlig andere Möglichkeiten. Der Bundesliga-Spieltag als Diaschau: kein Problem. Das entscheidende Tor als Kurzvideo: ein Rechte-, aber kein technisches Problem. Der Trailer zur Filmkritik: machbar, Herr Nachbar. Aktuelle Berichterstattung weltweit, auch in Gegenden, wo kein Verkehrsmittel hinkommt: Na klar. Eine Schnellabstimmung zu einer politischen Sachfrage: Kostet ein paar Klicks.

Das gibt es alles schon? Richtig: Im Internet kann man all die beschriebenen Vorteile heute schon finden, man kann es nur noch nicht mitnehmen, das Internet.

Sieht doch irgendwie bescheuert aus, mit dem Notebook auf dem Schoß (soll sogar Männer unfruchtbar machen wegen der Abwärme). Deutschland hinkt bei schnellen Internet-Anschlüssen hinterher, der Breitband-Funk UMTS kommt nur zögerlich und spät, auf dem Land bleibt bis dato nur das teure Satelliten-DSL.

Doch das sind Umstände und Widerstände, die es in ein, zwei Jahrzehnten nicht mehr geben wird.

Journalismus von unten

Wichtiger jedoch als die Form, in der Journalismus vermittelt wird, ist das Prinzip, das dahinter steckt: Der Qualitäts-Journalismus - und nur von diesem lohnt es zu reden - bleibt nötig. Auch wenn man irgendwann einmal keine Bäume mehr umhacken muss, um ihn unters Volk zu bringen.

In aller Ruhe selber aussuchen, wann, wo, wie schnell und wie oft man einen Artikel lesen möchte - lesen, das bleibt der entscheidende Unterschied zu den audio-visuellen Medien. Die werden über immer höher entwickelte und miniaturisierte Endgeräte und leistungsfähige Funknetze auf Knopfdruck verfügbar sein.

Aber Menschen nehmen eben das eine ganz anders wahr als das andere.

Zeitung, das Prinzip Zeitung, darf sich auf diesem Unterschied, der ihm zum Vorteil gereicht, nicht ausruhen, darf keine Verschnarchtheit pflegen, die sich allein aus dem überkommenen Tot-Holz-Logistik-Zyklus speist.

Moment der Reflexion

Aber sie muss nicht so schnell sein wie Nachrichtensender, die ganze Stunden von Sendezeit damit füllen, dass sich Moderator und Reporter wechselseitig versichern, im Moment wisse man leider noch nicht mehr, eine Pressekonferenz sei angekündigt usw.

Und währenddessen spult das Laufband unter dem schreienden Rubrum Breaking News die selben redundanten Nachrichten noch einmal ab. Dazu dann noch die Börsenkurse.

Zeitung darf, ja muss sich den Moment der Reflexion gönnen, braucht nicht die News in statu nascendi abzubilden. Sie kann sich - je mehr sie ihre früher zentrale Funktion der Nachrichtenübermittlung verliert - um so eher darauf konzentrieren, die Story hinter der Nachricht zu entdecken.

Und ihre Autoren können so schreiben, dass die Texte auch eine emotionale Qualität erhalten. Zeitung kann immer das nötige Maß an Volkshochschule als Zusatzangebot liefern.

Oder das tun, was die italienischen Blätter Il Foglio und Il Riformista seit 1995 (noch auf Papier) vormachen: Zeitungen, dünn wie einst das Neue Deutschland, die aber einzig und allein aus Kommentaren bestehen.

Die qualifizierte Minderheit, die künftig das Qualitätsprodukt Zeitung bezieht, tut dies nicht, um die blanke Nachricht in angemessenem zeitlichen Abstand nach einem Ereignis rekapitulieren zu können. Der interessierte Leser hat aus den überall zugänglichen elektronischen Quellen längst erfahren, was passiert ist.

Ihn interessieren die Hintergründe, die Taktik, die Winkelzüge. Erst dann ergibt sich das volle Bild. Um das leisten zu können, müssen Zeitungs-Journalisten auch künftig gut ausgebildet, gut organisiert und gut bezahlt sein. Und, ja, verdammt gut recherchieren.

Zwar erlaubt die weltweite Daten-Vernetzung schon heute jedem, zum Publizisten zu werden. Und nach dem Wiki-Modell nehmen die Befürworter des "Journalismus von unten" an, es werde sich mit der Zeit schon ein Konsens herausbilden, wie bestimmte Dinge einzuschätzen seien, ganz nach dem Motto: Mag der einzelne Fisch auch daneben liegen, der Schwarm wird es korrigieren.

Überholte Modelle

Aber die Flut der Informationen, die auf den industrialisierten Menschen hereinbricht, ist schon jetzt so gewaltig, dass es immer nötiger wird, sie zu kanalisieren und zu filtern, je mehr es davon geben wird - und es wird immer mehr geben.

Auch wenn die individuelle authentische Stimme, beispielsweise eines Bloggers, ein Korrektiv und eine wichtige Ergänzung sein kann: Diejenigen, die auf gut zugängliche, zuverlässige und ausreichend schnelle Informationen angewiesen sind, werden etablierten Marken oder Zeitungstiteln in diesem Geschäft eher vertrauen als anonymen Schwärmen, solange - und nur solange - die etablierten Journalisten sich dieses Vertrauen auch verdienen.

Sie werden es sich nur verdienen können, wenn ihre Verlage genügend Geld zur Verfügung haben, Qualitätsjournalismus zu ermöglichen. Im Moment hat es den Anschein, als taugten die traditionellen Geschäftsmodelle der Zeitungen - eine Mischung aus Anzeigen- und Verkaufserlösen - nicht mehr dazu, diesen auch in Zukunft zu finanzieren.

Aber das ist eine andere Geschichte. Eine Geschichte, bei der es um die Frage geht, ob es nicht andere Modelle gibt, wie hochqualitativer Journalismus auch ein Geschäft sein kann.

Ein Geschäft, bei dem die Gattung Zeitung das, was sie auszeichnet, ins elektronische Zeitalter des Internets überträgt und dessen gewaltiges Potenzial nutzt.

Vielleicht wird dabei auch die Frage gestellt werden müssen, ob sich Demokratien das Aussterben der Gattung Qualitäts-Zeitung wirklich leisten wollen. Ein öffentlicher Diskurs, geführt auf dem Niveau von Privatsendern, das wäre dann doch zu wenig.

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