"Die niedrigen Himmel" von Anthony Marra:Sonja und das Krankenhaus Nr. 6

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Ein russischer Soldat befestigt im März 2009 ein Maschinengewehr am Balkon eines Hauses in Grosny. (Foto: DPA)

Der Amerikaner Anthony Marra erzählt in seinem Roman "Die niedrigen Himmel" vom Tschetschenienkrieg. Zu seinem Schauplatz reiste er jedoch erst, als das Manuskript fast fertig war.

Von Hans-Peter Kunisch

Während des ersten Tschetschenienkriegs fällt es Ramsan im falschen Moment ein, mit dem Rad in die Stadt zu fahren. Gerade haben Rebellen die aus Moskau geschickten Truppen überfallen. Ramsan wird gefangen genommen und in die "Deponie" gebracht - eine Müllbeseitigungsanlage, die nie fertig wurde. Es gibt dort nur Schlamm in großen Gruben. Doch weil Ramsan seine Nachbarn nicht bespitzeln will, wird es noch schlimmer: Er wird in das Gebäude mit der Aufschrift "Entsorgungsanlage" verschoben, wo er mit Elektroschocks traktiert und schließlich kastriert wird.

Am Ende wirft man ihn als blutendes Bündel auf die Straße seines Heimatorts. Im zweiten Tschetschenienkrieg wird Ramsan noch einmal in die Deponie gebracht - und all das, was ihn damals davon abhielt, Spitzel zu werden, ist weg. Er hat Angst, und die Nachbarn haben ihn verspottet, weil er nie eine Freundin hatte. Ramsan hat ihnen nichts vom ersten Deponieaufenthalt erzählt. Jetzt wird er zum Verräter.

Ramsan ist eine großartig zwiespältige Figur, deren Persönlichkeit sich über die ganze Strecke des ersten Romans von Anthony Marra dramaturgisch gut dosiert entfaltet.

Wirklichkeitsnahe Gefühle

Marra macht in mehreren Schüben nachvollziehbar, wie der aufrechteste Einwohner des Dorfes Eldar zum falschesten werden kann. Aber Ramsan ist nicht der einzige "gemischte" Charakter der "Niedrigen Himmel": Ahmed etwa, der zum Auftakt des Romans die achtjährige Tochter eines Freundes rettet, ist, so wird deutlich, der unfähige Dorfarzt, der den blutenden Ramsan damals aufgelesen hat. Aber auch er hat nicht gefragt, wie es zu der Verletzung kam, und verachtet Ramsan. Dann wird klar, dass Ahmed den Freund, dessen Tochter er gerettet hat, lange mit dessen Frau betrogen hat.

Doch wo und wie hat der 1984 in Washington D.C. geborene Anthony Marra solche Schicksale aufgetan? Ist er nach Tschetschenien gefahren, Monate geblieben und hat dort interessante Bekanntschaften gemacht? Eher nein. Die erste Idee zu einem "Tschetschenien-Roman" kam Marra fern davon, in St. Petersburg, wo er kurz nach Anna Politkowskajas Ermordung einen Studienaufenthalt begann. In einem Gespräch mit der New York Times hat Marra erzählt, dass er den Ort der Handlung erst kennenlernte, als das Buch schon beinahe fertig war. Für einen Roman sei nicht entscheidend, "dass jeder Baum am richtigen Ort steht." Wichtiger sei, "die Gefühle der Figuren wirklichkeitsnah zu gestalten."

Das ist eine ebenso mutige wie abgeklärt- professionelle Aussage. Sie erinnert an lateinamerikanische Schriftsteller wie César Aira, die es, auf Borges' Spuren, leid sind, Europäer und Amerikaner mit der Exotik des magischen Realismus zu bedienen. Sie versorgen sich bei der Stoffsuche gern selber auf der "anderen Seite", also in Europa und Amerika. Das hat zu spannenden Experimenten, aber auch zu eher theoretischen Texten geführt. Im Bemühen, trotz Distanz möglichst realitätsnah zu schreiben, wird ein Lokalkolorit versucht, dem man die Fremdheit der Schauplätze, Eigennamen und Idiome anmerkt.

Marra, der die eigenwillige Ästhetik seines Debütromans im Titel des Originals, "A constellation of vital phenomena", provokativ andeutet, erscheint auf den ersten Blick als Stubenhocker und Anti-Reporter. Muss es denn immer Realität sein?, scheint er zu fragen. In der Danksagung nennt er mehr als fünfzig Personen, Creative-Writing-Einrichtungen und Bücher, aber keinen einzigen leibhaftigen Bewohner des Landes, dessen blutige Geschichte ihm als Schauplatz der "Niedrigen Himmel" dient - und dennoch erzählt Marra ausschließlich von Tschetschenien und Tschetschenen. Nicht einmal den Quoten-Ausländer, durch dessen Brille das Geschehen gefiltert wird, gibt es. Anmaßend? Durchaus. Das Irritierende an diesem Debütroman eines jungen Amerikaners ist, dass er, selbst wenn man all die Einwände gegen ihn erwägt, aufs Erstaunlichste überzeugt.

Das liegt nicht an jeder einzelnen Figur. Das kleine Mädchen, das gerettet wird, entwickelt wenig Eigenleben. Auch die Schwestern Sonja und Natascha, die anderen wichtigen weiblichen Charaktere, sind nur halb gelungen. Bei Sonja, die Chirurgin am Krankenhaus Nr. 6 von Woltschansk ist, aber den ersten Krieg als Medizinstudentin in London verpasst hat, wird die Schwierigkeit deutlich, eine politisch korrekte und zugleich literarisch komplexe Figur zu gestalten.

Phasenweise beeindruckend naturecht

Doch Sonjas Perspektive, die Wahrnehmungen des Konflikts von innen wie außen ermöglicht, ist gut gewählt. Natascha, die jüngere Schwester, hat die Gewalt des ersten Krieges mitbekommen und wird danach von einem coolen Freund als Prostituierte nach Italien vermittelt. Ein typisches Schicksal, phasenweise beeindruckend naturecht, aber in diversen diesbezüglichen Passagen sind die Ränder der Dokumente und Reportagen, die Marra benutzt hat, noch deutlich zu spüren, ohne dass dies als Programm erkennbar wäre.

Fugenlos und souverän, geschmeidig, einfallsreich und einfach in den Bildern - die deutsche Übersetzung von Ulrich Blumenbach und Stefanie Jacobs bildet das gekonnt nach - verwendet Marra sein Material in den Geschichten der männlichen Charaktere, die im Mittelpunkt des Geschehens stehen. Sie sind alle keine Kriegsbefürworter, aber jeden erreicht dessen unvermeidliche Gewalt. Marra lässt tief von den Kriegsgeschehnissen geprägte Beziehungen zwischen den Figuren entstehen. Ramsan etwa wird ergänzt durch seinen Vater, einen eigenbrötlerischen Privatgelehrten der tschetschenischen Geschichte, der auf einmal mit einem Verräter-Sohn klarkommen muss. Beides klar konturierte Individuen, die den Weg zueinander nicht mehr finden. Am Ende hält der Vater das Messer schon in der Hand und steht vor seinem schlafenden Sohn - als etwas dazwischenkommt.

© SZ vom 23.06.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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