Devid Striesow als "Ivanov" in Hamburg, Jens Harzer als "Iwanow" in Bochum:Unverdünnter Weltekel

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Dem einen ist alles peinlich, dem anderen fast nichts: Karin Beier inszeniert "Ivanov" in Hamburg, Johan Simons "Iwanow" in Bochum. Ein Leistungsvergleich.

Von Alexander Menden

Ich kann schon gar nicht mehr richtig sitzen", sagt Iwanow. Da lacht das Publikum im Bochumer Schauspielhaus, weil es nach fast vier Stunden vielen Zuschauern ähnlich gehen mag, aber auch, weil Iwanows Selbstbeschreibung so präzise ist. Er sitzt nicht, er hängt x-beinig auf einem der vielen Stühle. Ivanov hingegen sitzt so gut wie nie. Auf der weitgehend leeren Bühne des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg lässt er zwar oft die Schultern hängen. Aber er steht. Er krümmt sich. Er dreht sich zur Wand. Er wird auch oft ziemlich laut, während Iwanow in Bochum seine Stimme kaum je über ein heiseres Raunen erhebt. Leiden tun sie beide, an sich, an den anderen, an allem. Die Frage des Abends ist hier wie dort: Wann gibt er sich die Kugel?

Wenn an zwei der bedeutendsten deutschen Schauspielhäuser, Bochum und Hamburg, der Intendant, Johan Simons, und die Intendantin, Karin Beier, parallel Anton Tschechows "Iwanow" (beziehungsweise "Ivanov") inszenieren, und wenn sie die Titelrolle mit Jens Harzer und Devid Striesow sehr prominent besetzen, dann ist ein Vergleich unausweichlich. Und wenn man eines lernt in diesen insgesamt sieben Stunden russischer Fin-de-Siècle-Tristesse (vier in Bochum, drei in Hamburg), dann, dass diese frühe Version von Tschechows zahlreichen stagnationskranken, irgendwie lächerlichen Schmerzensfiguren sehr andersgeartete und doch weitgehend schlüssige Lesarten bereithält.

Dieser Nikolaj Aleksejewitsch, der pleite ist, seine kranke Frau Anna Petrowna nicht mehr liebt, sich nach ihrem Tod aber auch nicht durchringen kann, Sascha, die jüngere Tochter seines wohlmeinenden Gläubigers Lebedew zu heiraten, ist zum Scheitern verurteilt. Aber Jens Harzers Iwanow und Devid Striesows Ivanov scheitern sehr unterschiedlich.

Striesows Ivanov ist eine Projektionsfläche. Alle sehen das in ihm, was sie sehen wollen: einen potenziellen Superunternehmer, einen hart arbeitenden Revolutionär oder ein verqueres Genie, das mit viel Liebe wieder vom Kopf auf die Füße gestellt werden kann. Man sieht Ivanov dabei zu, wie ihm unter dem Druck von außen der Magensaft in die Kehle steigt. Er ist genervt, alles ist ihm zu viel, die angetragenen Zuwendungen, emotional wie finanziell, die eigene Existenzverwirrung. Am liebsten wäre er woanders. Und doch klagt er in einer einzigen Szene über seine Erschöpfung mit mehr Elan, als Harzers Iwanow im gesamten Stück aufbringt.

Ungeheuer überdrüssig: Jens Harzer als „Iwanow“ in Bochum (links), hier mit Marius Huth als Arzt Lwow. (Foto: Monika Rittershaus)

Bei Harzer sind auch die Dialoge Monologe. Johan Simons zeigt uns die Welt aus Iwanows Sicht, und aus dieser Monade gibt es kein Entrinnen. Wie ungeheuer überdrüssig seiner selbst muss dieser in manieriertem, oft unmoduliertem, unbestimmt sehnend-leidendem Ton salbadernde Mensch sein. Wenn Striesow seiner Frau erklärt, dass er sie nicht mehr liebt, dann steht ihm das schlechte Gewissen ins Gesicht geschrieben; Harzer teilt es mit, als logische Konsequenz der zu undurchdringlichem Phlegma geronnenen Gesamtsituation. Wo Striesow sich noch rechtfertigt, da konstatiert Harzer nur noch. Dem Hamburger Ivanov ist fast alles peinlich, dem Bochumer Iwanow fast nichts. Beide haben eine wirklich unangenehme Aura, sie sind, wie Doktor Lwow so treffend sagt, "zutiefst unsympathisch". Aber nur Jens Harzer verströmt jene Art unverdünnten Weltekels, der am Ende alles zersetzen wird.

Die innere Ödnis machen Bochum wie Hamburg äußerlich fühlbar: In Bochum hat Bühnenbildner Johannes Schütz alles bis zur Rückwand aufgerissen, an der Regalbretter für Requisiten, aber auch für jene Schauspieler befestigt sind, die gerade nicht mitspielen. Sie beobachten das Geschehen, später werden sich diese Ebenen vermischen, wird auch das Wandregal zur Aktionsfläche. Bühnenbeherrschend ist ein riesiges Gestell in Quaderform aus Vierkantbalken, das sich im Laufe des Abends erst aufrichtet und schließlich auseinanderklappt, wie Iwanows ganze Existenz. In Hamburg bleibt die Requisite auf Stachelbeerkonfitürengläser, ein paar Bänke und Ballons beschränkt.

Bei beiden Produktionen sieht man Dinge, die man der jeweils anderen wünschen würde. So hätte Simons, gerade weil Iwanow bei ihm viel stärker im Zentrum steht als bei Karin Beier, mehr streichen können, ohne etwas zu verlieren. Der tödliche Ennui wird zwar in seiner zerdehnten Fassung sehr spürbar, aber das gelingt in Hamburg mit einer Stunde weniger auch.

Simons vermeidet dagegen jeden Kitsch, während die Kollegin ihn immer dann streift, wenn Vlatko Kucan als Lakai Gavrila die Szene mit traurigen Bassklarinettentönen untermalt. In Bochum wird die stumme Rolle des Gawrila von Romy Vreden gespielt, die selbst einige melancholische Gesangseinlagen bietet.

Devid Striesow als Ivanov und Angelika Richter als Anna in Hamburg. (Foto: Arno Declair)

Zwei so hochkarätige Besetzungen unmittelbar vergleichen zu können, ist übrigens ein seltenes Vergnügen. In manchen Rollen können die Darsteller in beiden Inszenierungen glänzen, allen voran Michael Wittenborn (Hamburg) und Bernd Rademacher (Bochum) als saufender Brautvater Lebedew. Bei beiden hat sich der Alte in seinem Eheunglück mit der Marmelade kochenden Zinaida Sawischna eingerichtet, beide sind hinreißend als relaxte Pegeltrinker.

Andere Figuren bekommen je nach Regiekonzept mehr oder weniger zu tun. Während Marina Frenk als junge Witwe Babakina in Bochum kaum mehr tun kann, als auf die Zurückweisungen von Iwanows Onkel zu reagieren, hat Lina Beckmann in Hamburg als hopsende, stolpernde Soubrette einige der größten Lacher. Wo Jele Brückner als Anna Petrowna in Bochum von Beginn an in Rückenlage siechen muss, hat Angelika Richter in Hamburg eine energischere Partie zu spielen - diese Frau bäumt sich auf gegen ihre Krankheit und den Liebesentzug ihres Mannes.

Den Arzt Lwow gibt Marius Huth in Bochum als besorgten jüngeren Bruder, während Samuel Weiss in Hamburg offenkundig in Anne Petrowna verknallt ist. Aus dem mauschelnden, geldgeilen Verwalter Borkin holt Thomas Dannemann in Bochum allerdings deutlich mehr an latent gefährlicher Dekadenz heraus als Bastian Reiber, der die Komik dieses Mannes geradliniger, nicht aber effektiver gestaltet.

Besonders interessant ist die Anlage der Sascha, weil hier die Regieperspektive durchschlägt: In Hamburg spielt Aenne Schwarz sie leicht verzogen und görenhaft, aber ehrlich um die Rettung Ivanovs bemüht. Wenn sie sich küssen, wenn sie die Beine um ihn schlingt, könnte man sogar fast glauben, dass ihr diese Rettung doch noch gelingt. Ganz anders in Bochum: Dort durchstößt die - beachtlichen natürlichen Glamour verströmende - Gina Haller niemals die Neurosenmembran, die Iwanow umgibt. Simons vermeidet in seiner Figurenführung sorgfältig jede körperliche Chemie. Das hilflose, ringkampfartige Gegrapsche des Paares signalisiert bestenfalls, dass sie noch nicht weiß, wie es geht, und er es schon wieder vergessen hat. Seinen Abschiedsmonolog liest Iwanow, weit weg von Sascha, die sich ins Regal zurückgezogen hat, vom Blatt ab - äußerste Distanzierung.

Dass das Ganze nicht so richtig gut enden wird, ist ja klar. Aber bei Devid Striesow wirkt der Suizid per Kopfschuss auf offener Szene alles andere als unausweichlich. Er steht sich in enervierender Weise selbst im Weg, man möchte ihn schütteln, damit er sich zusammenreißt. Trotz aller mangelnder Sympathie für Ivanov ist sein Abgang zumindest bedauerlich. Wer sich aber selbst als so unappetitlich wahrnimmt, wie Jens Harzer diesen Iwanow präsentiert, für den gibt es wahrscheinlich von Anfang an keinen Ausweg. Als er abgeht und es knallt, zuckt das Publikum erst zusammen, dann atmet es auf. Hat nun einer gewonnen? Bei Tschechow gibt es ohnehin keine Sieger.

© SZ vom 22.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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