Deutscher Alltag:Im Dunkel der Tracht

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Der Untergang des Abendlandes wird auch auf Volksfesten in Bayern vorbereitet, für die mutmaßlich chinesische Designer Leinenbeinkleider mit Hirschhornapplikationen entwerfen. Beim gütigen Joop.

Kurt Kister

So wie ein Soldat in Uniform keinen Regenschirm tragen sollte (es sei denn, er begleitet eine Dame), sollte ein Herr nie schnell laufen oder hasten, sondern sich nur gemessenen Schrittes bewegen. Schon in dem einzigen Song von Sting, den jeder, der etwas auf sich hält, kennen muss, nämlich Englishman in New York, heißt es dazu endgültig: "Confront your enemies, avoid them if you can / a gentleman will walk but never run". Man soll sich also seinen Feinden stellen, darf sie aber durchaus meiden, in jedem Fall aber gehen und nicht etwa rennen. Nun ist es enorm schwierig geworden, überhaupt noch Gentlemen zu finden, besonders im Sommer.

Angebayerter Vollmimikry: Immer häufiger verstehen die Leute die diversen kleinen und großen Wiesn als eine Art Hansi-Hinterseer-Brauchtumsfasching mit einem Schuss urbaner Lederhosigkeit. (Foto: ddp)

Es ist wieder jene Zeit angebrochen, in der die Männer, von Herren kann nicht die Rede sein, buntbedruckte, gar bestickte Hemden tragen, auf denen es heißt, der Besitzer sei Mitglied eines Poloteams oder des Reitclubs der Harvard-Universität, obwohl man dem Kerl, der das Hemd anhat, ansieht, dass er vermutlich durch die mittlere Reife gefallen ist. (Über dreiviertellange Hosen und Sandalensocken soll in diesem Sommer kein Wort verloren werden.)

Ein anderes bedeutendes Feld, auf dem der Untergang des Abendlandes vorbereitet wird, sind Volksfeste in Bayern. Immer häufiger verstehen die Leute die diversen kleinen und großen Wiesn als eine Art Hansi-Hinterseer-Brauchtumsfasching mit einem Schuss urbaner Lederhosigkeit. Früher ging man aufs Volksfest, auch auf das monströse Oktoberfest, so wie man war. Eine nicht zu empfindliche Hose, gern eine Jeans, Hemd und Jacke, normaler Mensch halt. Das geht nicht mehr. Der Abteilungsleiter und der Mechaniker, die Dentaltechnikerin und die Prokuristin bevölkern solche Feste immer häufiger in angebayerter Vollmimikry.

Mutmaßlich chinesische Designer haben dafür den Landhausstil entworfen: Leinenbeinkleider mit Hirschhornapplikationen, jeansartige Lederhosen mit Werdenfelser Suffstickerei, bauschende, gerüschte Baumwollhemden, die selbst der Künstler, der sich jetzt wieder Prince nennt, verabscheuen würde. Die Damen, pardon: die Frauen oder auch Menscher, haben Schnürstiefel nach Art der Teilzeitgunstgewerblerin an, helllederne Wämser und Protodirndlröcke, die allerdings an die Saloon-Tänzerinnen aus einem Lucky-Luke-Comic erinnern. Warum, um Gottes willen, glauben die Menschen, dass ein Volksfest Karneval ist? Und wer, beim gütigen Joop, hat solche bodenständigen Angstträume, dass er den Menschen Kleider schneidert, als seien sie alle alpine Incubi oder Succubi?

Man weiß nicht, wann die Unsitte des großen Bierfest-Faschings eingerissen ist. Ein gerüttelt Maß an Schuld daran hat sicher jener Teil der Münchner Ungesellschaft, die früher die Schickeria hieß. Leider ist da auch der FC Bayern zu nennen, der jeden Spieler, egal ob weiß, schwarz, braun oder Preiß, in eine Lederhose steckt. Auch deswegen muss man sich auf Volksfesten im bayerischen Land den silbereisisch Verkleideten stellen. Oder man macht es wie Stings Gentleman: avoid them if you can.

© SZ am Wochendende vom 14./15. August 2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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