Deutscher Alltag:Ach, Deutschland

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In erster Linie interessiert das, was Journalisten breittreten und auswalzen, ja nur die Breittreter und Auswalzer. Die FAZ zum Beispiel diskutiert derzeit, was Goethe, wenn er noch lebte, über Sarrazin dächte.

Kurt Kister

Journalisten, Publizisten zumal, halten gerne das, worüber sie miteinander debattieren, für das Gespräch der Gesellschaft. Manchmal trifft das zu, zum Beispiel, wenn es um Fußball geht. Fußball interessiert die Menschen, zumindest die Männer, jedenfalls viele. Anderes aber, das in Zeitungen und Magazinen gerne breitgetreten sowie in Talkshows ausgewalzt wird, interessiert in erster Linie die Breittreter und Auswalzer.

Das Schöne an Goethe ist ja, dass man mit Mutwillen aus seinem riesigen Werk alles belegen kann, was man selbst an Vorurteilen pflegt. (Foto: AP)

Ein Beispiel dafür ist eine Artikelfolge, eine sogenannte Feuilletondebatte, die in diesen Wochen in der im 20.Jahrhundert sehr bedeutsamen Frankfurter Allgemeinen Zeitung erscheint. Da machen sich Menschen, unter ihnen solche, die den Islam für gefährlicher halten als Dieter Bohlen, tiefe Gedanken darüber, ob Goethe wohl eher Sarrazin zugeneigt hätte oder vielleicht doch mehr dem Imam von Penzberg, würde Goethe denn unser Zeitgenosse sein.

Ach Deutschland, ach Goethe. Als guter Deutscher, zumal als FAZ-Abonnent, hat man nahezu die Pflicht, regelmäßig darüber nachzudenken, was Goethe wohl gesagt oder geschrieben hätte, wäre ihm der sonderbare Aufstieg von Borussia Dortmund, das iPhone oder die PID vertraut gewesen. Das ist relativ einfach, weil man mit etwas Mutwillen aus dem riesigen Werk Goethes alles belegen kann, was man selbst an Vorurteilen pflegt, sogar wenn man Necla Kelek heißt. Ohnehin ist ein Essayist, der seine eigenen Überzeugungen ohne Goethe oder die Bibel belegt, wahrscheinlich ein Werterelativist und allemal ein Islam-Appeaser.

Überhaupt würde Goethe, der alte Frankfurter, heute keinesfalls nach Weimar umsiedeln. Denn Weimar ist ja nur Weimar, weil Goethe da gewesen ist. Wäre er also, weil Goethe heute lebte, noch nicht dort gewesen, gäbe es außer der Thüringer Rostbratwurst für Goethe keinen Grund, dahin zu gehen, weil ja nicht einmal Schiller ohne Goethe in Weimar gewesen wäre. Wäre Goethe 2011 zum Beispiel 55 Jahre alt, würde er entweder als Chef des Marbacher Archivs den Nachlass von Ernst Jünger ordnen oder FAZ-Herausgeber für all jene Fragen sein, welche die anderen Herausgeber nicht beantworten mögen.

Allerdings hätte Goethe dann weder die verstiegene Farbenlehre noch den abgedrehten Faust II geschrieben. Vermutlich auch keinen Werther, dafür aber Essays im Spiegel. Das wäre insgesamt auch wieder sehr schade. Also ist es eigentlich besser, dass alle möglichen Feuilletondebattierer sich an Goethe nach Gusto vergreifen. Und sollen sie ihm halt unterstellen, er hätte das große, definitive Anti-Mohammed-Buch schreiben wollen. Ist ja nur eine Feuilletondebatte.

© SZ vom 22.01.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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