Deutsche Literatur:Schrecken der Herkunft

Lesezeit: 4 min

In seinem neuen Roman "Glückskind mit Vater" erzählt Christoph Hein die Geschichte zweier ungleicher Brüder. Der eine stellt sich in der DDR dem Nazi-Erbe, das ihm auferlegt ist, der andere nicht. Der Schatten des Vaters liegt über beiden.

Von Stephan Speicher

"Glückskind mit Vater" ist ein merkwürdiger Titel. Gehört zum Glückskind nicht selbstverständlich der Vater? Konstantin Boggosch, Hauptfigur des neuen Romans von Christoph Hein, ist ein Glückskind, aber er ist es trotz seines Vaters. Der ist 1945 in einem Schnellverfahren zum Tode verurteilt und hingerichtet worden, gewiss nicht ohne Grund. Gerhard Müller war Brigadeführer der SS gewesen, ein wichtiger Mann in deren Wirtschaft- und Verwaltungshauptamt und ein Unternehmer, der rücksichtlos die Gelegenheiten des Nationalsozialismus auch zum eigenen Vorteil ausbeutete. Nach seinem Tod nimmt die Witwe für sich und ihre zwei Söhne ihren Mädchennamen wieder an. Doch sie bleibt in dem mitteldeutschen "Städtchen", dessen Wirtschaftsleben ganz in der Hand Gerhard Müllers gelegen hatte; dort weiß man Bescheid. Und Bescheid wissen auch Staat und Partei, DDR und SED.

Einen Vater zu haben, der ein bekannter Kriegsverbrecher war, das ist schrecklich, selbst wenn man erst nach dessen Tode geboren wurde und von einer Erziehung im Geiste des Nationalsozialismus nicht die Rede sein kann. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren wäre ein solches Kind in Westdeutschland wohl durchgerutscht, in der DDR aber wird es immer wieder auf seine Abstammung gestoßen. Ob es um den Zugang zum Abitur oder um einen Platz im Sportinternat geht, zuverlässig schließen sich die Türen, sobald aus den Akten klar wird, wessen Sohn Konstantin ist. Eine Weile hoffte er, "dass dieses Unheil wie eine dunkle Wolke irgendwann sich auflösen und verschwinden würde. Doch dann begreift er, was der Vater, doch nur der biologische Vater, für ihn bedeutet: "das Pech meines Lebens".

YouTube

Die SZ-Redaktion hat diesen Artikel mit einem Inhalt von YouTube angereichert

Um Ihre Daten zu schützen, wurde er nicht ohne Ihre Zustimmung geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir Inhalte von YouTube angezeigt werden. Damit werden personenbezogene Daten an den Betreiber des Portals zur Nutzungsanalyse übermittelt. Mehr Informationen und eine Widerrufsmöglichkeit finden Sie untersz.de/datenschutz.

Schon früh hat sich Christoph Hein für Menschen interessiert, die Opfer von Unrecht und Benachteiligung werden. In seinen frühen, zu recht berühmten Romanen "Der fremde Freund" (im Westen unter dem Titel "Drachenblut") und "Der Tangospieler" werden die Hauptpersonen auf diese Weise vom Weg abgedrängt, ohne später noch einmal in ein lebenszugewandtes Dasein zurückzufinden. Sie betrachten die Welt um sich herum kaum anders als ein Aquarium, ihr Leben wie eine elektrische Eisenbahn, nur noch darum bemüht, dass "das Spielzeug weiter den endlosen, weil als Schlaufe angelegten Schienenstrang gleichmütig abfahren konnte".

Es ist eine schlechte Unendlichkeit, in der sie existieren müssen, ohne irgendeine Hoffnung auf persönlichen oder politischen Ausbruch. Die Sippenhaft, die Konstantin erlebt, könnte ihn ähnlich verändern. Aber er ist eine anders veranlagte Natur, ein wirkliches Glückskind. Er leidet unter den Zurücksetzungen, aber er verbittert nicht. Er sieht, anders als sein Bruder Gunthard, die Verbrechen seines Vaters. Und es wenden sich ihm die Menschen zu.

Mit vierzehn rückt er aus, in den Westen. Eine Flucht kann man es kaum nennen, er träumt von der Fremdenlegion, die ihn natürlich nicht aufnimmt. Doch in Marseille findet er eine Runde von Geschäftsleuten, die ihn als Fremdsprachenkorrespondenten beschäftigen. Sie haben Spaß an dem intelligenten Burschen und auch an sich selbst, Angehörigen der Résistance, die sich mit einem jungen Deutschen anfreunden. Konstantin genießt das Leben in Marseille, doch er leidet unter dem Gefühl, der Sohn eines Mannes zu sein, der seine Wohltäter ins KZ gebracht, womöglich ermordet hätte. So zieht er sich zurück und kehrt heim, auch aus Sehnsucht nach der Mutter. Gerade hat die DDR die Mauer errichtet, es ist ein Opfer, das Konstantin bringt.

Weiter wird ihm die DDR Steine in den Weg legen. Ein Studienplatz an der Filmhochschule bleibt ihm verwehrt, gerade noch ein Lehramtsstudium eröffnet sich. Aber er macht etwas aus dem Beruf und wird ein guter Lehrer, von Schülern und Kollegen respektiert. Allerdings muss er zur Kenntnis nehmen, wie die Opportunisten an ihm vorbeiziehen, bis 1989 und, gesteigert grotesk, darüber hinaus.

Christoph Hein hat sich einen eigentümlichen Helden zurechtgelegt. Die erst verletzten, dann seelisch heruntergekühlten, glaubenslosen Figuren der frühen Romane hatten etwas literarisch Schlüssiges. Das Glückskind Konstantin, das sich in allen Widrigkeiten und großem Unglück behauptet, nicht zynisch wird und nicht unfreundlich, woraus lebt es? Nicht aus einer großen Überzeugung, aber aus so etwas wie der Wahrheit. Konstantin begreift, was sein Vater getan hat und versteht, warum man dessen Kindern nicht unbefangen begegnet. Die Kategorien von Schuld und Sühne sind für ihn lebendig. Wie es die Mutter abgelehnt hatte, in den Westen zu ziehen und die ihr dort zustehende Rente sich auszahlen zu lassen, lehnt es Konstantin ab, nach der Wende Erbansprüche geltend zu machen, die seinen Bruder Gunthard zum reichen Mann machen.

Gunthard und Konstantin, die zwei ungleichen Brüder, sind schon mit den Namen markiert: der ältere mit einem scharf germanischen, der jüngere mit einem christlichen. Und wenn es von Konstantin hieß, er habe eine Empfindung für Schuld und Sühne, so muss man präzisieren, dass die Schuld, deren Folge er auf sich nimmt, nicht die persönliche ist. Etwas von der Erbsünde schwingt mit.

Der Autor hat den positiven Helden zum Ich-Erzähler gemacht, da liegt ein Problem, das der ostentativen Bescheidenheit. Dass dies den Leser weniger stört, als zu erwarten wäre, hat mit dem ruhigen Ton des Romans zu tun. Es wird weder moralisch geprahlt, noch stilistisch geprunkt. Über mehr als 500 Seiten läuft der Roman unauffällig vor sich hin, ohne auf Höhepunkte, Krisen oder Katastrophen zuzusteuern, nicht einmal Kapiteleinteilungen gibt es. Allerdings geht die Sorglosigkeit sehr weit. Der pensionierte Lehrer beanstandet, dass seine Schüler, die Journalisten geworden sind, den Konjunktiv nicht beherrschen, er selbst ist da aber auch keineswegs trittsicher. Dass in einer Kleinstadt die "Bürgersteige hochgeklappt" werden, Ergebnisse "belastbar" sind und von "hämischer Schadenfreude" gesprochen wird, mag man nicht allein der Gelassenheit des pensionierten Lehrers zuschreiben, es spricht eher für die Nachlässigkeit seines Autors.

© SZ vom 15.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: