Deutsche Literatur:Plötzlich quicklebendig

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In Karen Duves neuem Roman "Fräulein Nettes kurzer Sommer" zeigt das Biedermeier seine pechschwarze Seiten: Die junge Annette von Droste-Hülshoff wird zum Kobold.

Von Frauke Meyer-Gosau

Eine Schönheit war sie nicht gerade: Annette von Droste-Hülshoff, katholische Landadlige, 1797 auf der Burg Hülshoff als zweites von vier Kindern geboren, Dichterin und Komponistin aus dem Münsterschen. Zu lang war ihre Nase, die extrem kurzsichtigen Augen quollen hervor, beklagenswert hager von Gestalt war sie auch noch. Am zu zaghaften Essen freilich konnte das nicht liegen, denn "das Nettchen", wie sie im Familienkreis hieß, langte bei Tisch für eine Frau ganz unmanierlich kräftig zu. Und war dennoch immer wieder von Krankheiten und Schwächezuständen geplagt, musste im Bett liegen, sich schonen. Was für sie das Allerschlimmste war, denn auch Schreiben und Lesen, Singen und Klavierspielen fielen unters Ruhegebot, und frühmorgens mit einem Hämmerchen bewaffnet in die Landschaft hinaus zu eilen, um Steine zu klopfen und die äußerlich eher unansehnlichen Schätze dann in der Schürze nach Hause zu tragen, das war selbstredend schon gar nicht erlaubt. Die Patientin empörte sich über ihre Stilllegung, konnte aber nichts dagegen tun, physisch war sie ja auch wirklich schwach. Was ihr Temperament und ihre vielfältigen Begabungen anlangte, allerdings ganz und gar nicht.

Gleich im ersten Kapitel ihres Romans "Fräulein Nettes kurzer Sommer" fasst Karin Duve trocken zusammen, wie ihre nähere Umgebung die beim Sprechen wie beim Singen immer etwas zu laute junge Frau sah: "Annette von Droste-Hülshoff war eine Nervensäge." Der Leser allerdings konnte sie in einer Szene zuvor schon ganz anders kennenlernen, von klarer Vernunft geleitet nämlich, offen, mitfühlend, ängstlich, an allem Erdenklichen brennend interessiert. Duve schickt sie mit dem stockhässlichen, wegen seiner grausigen Stimme "Wimmer" genannten, dennoch allseits beliebten Studenten und Jungdichter Heinrich Straube, den seine Freunde für den nächsten Goethe halten, in den Frühnebel hinaus, zum Steinesammeln. Beide sind gern in der Natur, beide sind Dichter, beide fühlen sich zueinander hingezogen.

Und doch kann daraus keine Ehe werden, denn Straube ist bürgerlich und bettelarm, sein Studium wird von Annettes Familie finanziert, und sie ist eben ein Freifräulein. Trotzdem haben sie nicht vor, sich dem adligen Comment ohne Weiteres zu unterwerfen. Der Roman beginnt im Jahr 1819, noch scheint das Paar allen Grund zum Optimismus zu haben. Die Industrialisierung schreitet voran, das Bürgertum ist aufgrund seiner ökonomischen Erfolge auf dem Weg zur herrschenden Klasse. "Nun zählte nicht mehr allein die Herkunft, sondern auch die Leistung", und daran knüpft Heinrich Straube seine großen Hoffnungen, während er sich anschickt, das berührungsängstliche Fräulein Nette im Treibhaus zu küssen. "Sie und er", fantasiert Straube: "die großen Talente, die immer ein bisschen falsch verstanden sein würden, nie ganz dazugehörig. Fremdlinge in dieser brav-katholischen Herde, und deswegen, genau deswegen war es auch möglich, dass er Nette gleich küssen würde, dass sie eines Tages seine Frau sein würde, seine Kinder bekam und ihm in seinem literarischen Schaffen zur Seite stand - eine nicht mit Geld aufzuwiegende Hilfe, seine erste Leserin, der süße Trost seines Daseins und noch dazu eine Zierde in seinem Salon, die zu plaudern verstand wie keine Zweite." Dass auch sie dichten würde, ja, dass ihre Gedichte den seinen überlegen sein könnten (wovon Annette überzeugt war), das kam Straube nicht in den Sinn.

Doch es sollte ohnehin nicht zu dieser Verbindung kommen. Auf knapp 600 Seiten entwirft Karen Duve ein detailliertes, nicht selten äußerst komisches Zeit- und Figuren-Panorama der Jahre zwischen 1819 und 1821, das nicht nur die Gründe für das Scheitern der Liebe sinnfällig macht. "Fräulein Nettes kurzer Sommer" ist literarische Biografie, Künstler-, Familien- und Gesellschaftsroman in einem. Man sieht die adligen Studenten in der Stadt Göttingen sich in altfränkische Fantasieuniformen werfen, passend zu ihrer Gesinnung - die Befreiungskriege liegen vier Jahre zurück, nun wollen sie die Speerspitze der Restauration sein, zur Hölle mit dem Code Napoleon, hinweg mit den Juden und ihrer Emanzipation! Sie werden schon dafür sorgen, dass die überkommenen gesellschaftlichen Hierarchien ebenso unangetastet bleiben wie die Schranken zwischen Katholiken und Protestanten.

Ihre Bibel ist der bis vor Kurzem noch verbotene, 1817 auf Anregung der Brüder Grimm wieder aufgelegte Roman "Schelmuffsky", in dem es ums Saufen, Huren und Betrügen geht, ums nach Herzenslust mackerhafte Studentenleben, dessen kernige Ausrufe "Beim Trebelholmer" oder "Ei Sapperment" das Erkennungszeichen der rauflustigen Reaktionäre sind. Karen Duve lässt keinen Zweifel daran, dass in Gestalt dieser jungen Herren das Patriarchat noch einmal mit allen Mitteln gegen die bedrohliche Vorstellung ausholt, Frauen könnten ein Recht auf Entfaltung und Anerkennung ihrer Fähigkeiten behaupten.

Ganz böse Zeiten also für die Droste. Ein Klagebuch hätte der Roman also durchaus werden können, Anlässe im Leben der Dichterin gab es genug. Die Frauen nutzen jede Gelegenheit, ihren Selbsthass am Nettchen auszulassen. Deren nur wenige Jahre älteren Onkel fordern ihre Freunde ausdrücklich auf, die junge Frau erst einmal ordentlich zu demütigen, damit sie aufhört, die anderen mit ihrer Intelligenz und ihren Talenten als Sängerin, Pianistin und Dichterin zu drangsalieren. Schließlich schmieden sie ein Komplott mit dem schönen, moralisch außer Rand und Band geratenen August von Arnswaldt, das Annette fast zu einem "Me Too"-Fall macht und sie in ihrer Familie als sittenlose Kreatur desavouiert. Aus einer Beziehung zu Arnswaldt, den sie physisch anziehend findet, kann da nichts werden, aus einer Verbindung mit dem armen Straube aber ebenso wenig. Das Nettchen muss Buße tun und demonstrativ all das sein, was sie nicht ist: brav, zurückhaltend, eine emsig handarbeitende, ihrer Familie demütig ergebene junge Frau.

Karen Duve: Fräulein Nettes kurzer Sommer. Roman. Galiani Berlin Verlag, Berlin 2018. 584 Seiten, 25 Euro. (Foto: N/A)

Und dennoch: Bis auf den pechschwarzen Ausgang der Geschichte, an dem nichts zu beschönigen und schon gar nichts lustig ist, erweist sich Karen Duve als eine Virtuosin des komödiantischen Blicks auf ihre Figuren und deren Verhältnisse, eine Meisterin auch der Dialoge. Die Brüder Grimm in ihrem lebensängstlichen Stubenhockertum stehen danach als skurrile Erscheinungen da, ernst genommen allerdings in dem, was sie tun. Der Student Carl Ludwig Sand wiederum ersticht den Dichter Kotzebue aus nationalistischen Motiven - ein Schlaglicht auf den Irrwitz terroristischer Attacken. Und der junge Heinrich Heine zettelt in Göttingen seine Relegation von der Universität an, damit er sich auf die Harzreise begeben und wirklich ein Dichter werden kann.

So gelingt Karen Duve das Kunststück, ein hinreißend kurzweiliges Bild vom nur scheinbar betulichen Biedermeier zu zeichnen. In seinem Zentrum ein hochbegabter Irrwisch, der mit Hass und Tücke in die Knie gezwungen wird, sich aber nicht brechen lässt: Annette von Droste-Hülshoff, plötzlich quicklebendig.

© SZ vom 24.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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